Der Wind wehte.
Der Himmel wurde heller, die Sonne ging auf.
Ihre Wärme machte ihn müde, träge, schwer. Im Sonnenlicht konnte nicht einmal der Wind ihm etwas anhaben. Der Geist träumte einen traumlosen Schlaf. Solange, bis die Sonne unterging, und der Wind erneut an ihm zerrte.
Der Wind wehte.
„Ach, junger Schüler Jo, da bist du ja endlich!“ Ein verknittertes Gesicht unter einem fast kahlen Schädel schob sich hinter dem Regal hervor. „Ich hatte schon befürchtet, du würdest deine Studien vernachlässigen, mit all dieser dummen Spionage.“ Dem verknitterten Gesicht folgte ein hagerer Körper, der aussah, als würde ihn der nächste Windstoß davontragen. Wer zum Teufel war dieser Tattergreis, der aussah, als ob er längst in ein Grab gehörte?
„Spionage ist nicht dumm. Spionage ist wichtig“, knurrte Skane.
„Nicht so wichtig wie Studien, jedenfalls für einen Zauberer, der die Anfangsgründe noch kaum beherrscht“, gab der Alte ungehalten zurück. „Wir sollten jetzt dringend weitermachen.“
„Ich habe keine Zeit.“ Skane drehte dem Alten den Rücken zu.
„Unsinn!“, schimpfte der Alte. „Die Zeit musst du dir nehmen! Das solltest du selbst nur zu genau wissen!“
„Jaja, ein andermal.“
„Nein, heute! Sofort! Ich will keine Ausreden mehr hören!“
„Wir können später weitermachen. In ein paar Tagen oder in ein paar Monaten. Das läuft mir nicht weg.“
„Bist du verrückt geworden? Das geht auf keinen Fall!“ Die Stimme des Alten wurde immer schriller.
Was, bei den Winddämonen, wollte der alte Narr bloß von ihm? Skane knurrte. Der war ja schlimmer als ein Straßenköter, der Futter witterte.
„Deine Studien!“, wetterte der Alte gerade. „Du kannst deine Studien nicht einfach abbrechen, Jo! Nicht in diesem Stadium! Du weißt doch gar nicht richtig, was du tust!“
„Oh doch!“, konnte Skane sich nicht verkneifen zu sagen.
Der Alte zuckte zusammen. Ein merkwürdiger Ausdruck trat in sein Gesicht. „Du weißt es tatsächlich!“, staunte er. „Du sagst die Wahrheit!“
Jetzt war es an Skane, zusammenzuzucken. Woher wusste der Alte das? Was hatte der Greis bemerkt, was ihm entgangen war? Hatte der Alte einen Zauber benutzt, den er nicht kannte?
Der Alte humpelte näher und musterte ihn eingehend. „Ich könnte schwören …“, murmelte er. Sein dünner Hals zuckte vor. „Irgendetwas ist anders an dir.“ Seine Nasenflügel blähten sich, er schnupperte wie ein Jagdhund. „Und wieso riechst du plötzlich nach Banta-Früchten? Die isst man doch nur in der Wüste!“
Skane wartete nicht, bis der Alte den offensichtlichen Schluss zog. Mit einer fließenden Bewegung zog er mit der einen Hand seinen Arbeitsspiegel, mit der anderen hieb er seinen Stock dem Alten über den Schädel. Der ächzte und ging in die Knie. Skane kniete sich neben ihn und presste mit einem bösen Lächeln seinen Spiegel auf die eingefallene Wange des Alten. Der schaffte es gerade noch, ein leises Winseln auszustoßen. Dann zerfloss sein magerer Körper und verschmolz mit dem Glas des Spiegels.
Verdammt, das war knapp gewesen. Er musste vorsichtiger sein. Zumindest in den alten Zauberern waren die Erinnerungen an die Abtrünnigen ganz offensichtlich noch nicht völlig verblasst.
Skane hob den Spiegel auf. Der Alte musste wirklich dem Tod schon sehr nahe gewesen sein. Das Glas des Spiegels war durchzogen von grauen Schlieren. Und jetzt? Hier behalten konnte er ihn nicht. Man würde nur zu bald merken, dass ein Mitglied der Kristallkammer fehlte. Und wenn Meister Ro den Spiegel fand, würde er wissen, was geschehen war.
Skane schlug ein dickes Wolltuch um den Spiegel und ging hinaus, geradewegs in die tote Stadt außerhalb des Kristalls. Eine Weile suchte er in den leeren Gassen. Dann sah er ein Haus, das für seine Zwecke geeignet schien. Langgestreckt lag es in einer der kleineren Gassen. Wahrscheinlich hatte es früher einmal als Lagerraum für einen Kaufmann gedient. Skane stemmte die verzogene Holztür auf. Dahinter lag Helligkeit. Das Dach war zur Hälfte eingestürzt. Auf dem gestampften Lehmboden türmten sich Balken und Tonscherben. Perfekt. Skane schob mit dem Fuß die Scherben beiseite und legte den Spiegel auf den Boden. Lichtreflexe tanzten durch den dunklen Raum unter dem Dachrest. Er hockte sich nieder, hielt seine Hand über den Spiegel und konzentrierte sich. Die Luft um seine Hand schien sich zu kräuseln. Ein wabernder dunkler Schemen erschien, senkte sich auf den Spiegel hinab, verfärbte sein Glas zu tiefem Schwarz. Der Spiegel verzerrte seine Konturen, schien zu wachsen, fraß sich in den Boden. Die Schwärze wurde intensiver.
Endlich war es vollbracht. Skane erhob sich mit zittrigen Knien. Es war ein Risiko gewesen, diesen starken Zauber alleine zu versuchen, zumal er sich auch noch gleichzeitig vor einer Entdeckung durch die Kristallkammer abschirmen musste. Ein gut kalkuliertes Risiko. Eines, das sich gelohnt hatte. Vor ihm zog sich ein bodenloser, schwarzer Riss durch den Boden des Raumes. Ein Riss, der auf seine Beute lauerte. Unaufhörlich strömte die Energie der Stadt zur Kristallkammer, nichts konnte sich deren Sog entziehen. Die Energie zog durch die leeren Gassen, durch die toten Häuser, durch die Lehmziegelwände und die verwitterten Holzgefache. Und sie zog über den Riss, der geduldig wartete. Zufrieden sah Skane, wie ein dünner, aber beständiger Wasserfall an Energie in dem Riss verschwand. Es war ein rein passiver Residualzauber, stumm, ohne Signatur. Niemand in der Kristallkammer konnte ihn bemerken. Langsam, aber stetig entzog er der Stadt Energie und Leben. Jenseits der Wüste würde man sie zu nutzen wissen.
***
Am Abend vor der Tagundnachtgleiche suchte Sirit die Duka auf. „Ich gehe zurück nach Tolor.“
Die Duka musterte sie und wies dann auf die fellbespannten Hocker am Feuer. „Kein Grund, wichtige Dinge im Stehen zu besprechen. Setz dich, Tochter.“
Sirit setzte sich. Eine Weile schwieg die Duka und beide Frauen sahen in das Spiel der tanzenden Flammen. Es knisterte, als ein dicker Ast in der Glut zerfiel. Kleine Funken sprangen auf. Die Duka griff hinter sich, hantierte mit irgendetwas und präsentierte Sirit dann eine Tasse dampfendheißen Bergblumentee. Dankbar inhalierte Sirit das vertraute, beruhigende Aroma, während sie die Tasse mit beiden Händen an die Lippen führte.
„Ich vermute, es gibt einen Grund dafür, dass du jetzt plötzlich los willst“, sagte die Duka. „Ich muss gestehen, ich hatte schon gehofft, dass du hier bleiben würdest. Als mein Schwesterkind bist du ein wichtiger Teil unserer Sippe und ich bin sicher, du hättest hier eine Zukunft, die dir gefallen würde.“
Sirit sah die ältere Frau an. Die Züge, in denen sie jetzt, wo sie es wusste, ihre Mutter leicht wiederfinden konnte. Ja, hier hätte sie eine Zukunft, sicher, erfüllt und geliebt. Aber …
„Ich habe Verpflichtungen, vor denen ich geflohen bin“, sagte sie.
Die Duka nickte, als ob sie ihr etwas längst Bekanntes erzählte.
„Heute Morgen war ich im großen Handelshaus“, fuhr Sirit fort. „Ein Stoffhändler aus Karapak war gerade eingetroffen. Er hatte Neuigkeiten.“ Sie schluckte trocken, zwang sich dann, etwas von dem Tee zu trinken. Wie kam es, dass ihr selbst jetzt diese Nachricht noch so nahe ging? „Er berichtete, dass der neue König Tolioro Anspruch auf die Regentschaft über Tolor erhebt. Weil er meinen – unseren Sohn hat. Irgendwie hat er ihn wohl wiedergefunden.“ Leise fügte sie hinzu: „Ich hatte so gehofft, unser Sohn wäre für immer vor ihm sicher und würde niemals erfahren, wer seine Eltern sind.“
„Weil du denkst, er schämt sich, dass seine Mutter zur Hälfte aus dem Blut der Drachenberge ist?“
Die Frage der Duka hatte zu beiläufig geklungen. Sirit schüttelte heftig den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Er hat keinen Grund, sich dafür zu schämen. Aber er hat einen Vater, der ein Monster ist. Und wenn es diesem Vater nicht gelingen sollte, seinen Sohn zu seinem Ebenbild zu formen, wird der Junge irgendwann seinen Vater nicht nur fürchten, sondern auch zutiefst verachten. Und mich, fürchte ich, auch. Ich habe als seine Mutter versagt. Ich habe mich meinen Pflichten entzogen. Ich bin davongelaufen.“
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