1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Es gab nichts, was Ioro darauf antworten konnte.
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Am selben Abend noch packte Ioro seine wenigen Habseligkeiten und zog um in das Zelt des Schamanen. Die Frau Sua sagte nichts, als er ging. Sie umarmte ihn nur kurz, streichelte über seine Wange, und widmete sich dann wieder ihrem Herdfeuer.
Mugo wartete draußen vor dem Zelt. „Schade, dass du gehst“, sagte er. „Aber ich schätze, Sua hat recht. Du musst wohl gehen.“
„So. Hat sie das gesagt?“ Ioro hockte sich neben den Jungen. Mugo kaute auf einem Grashalm. Sein Gesicht sah verschlossen aus. Zu nachdenklich. Zu alt für seine Jahre. „Vermisst du deinen Vater?“, fragte Ioro.
„Ja.“ Die Antwort kam zäh, widerwillig.
„Hättest du gewollt, dass ich in eurem Zelt bleibe?“
Mugo biss den Grashalm ab und spuckte ihn aus. „Na ja. Es war halt viel lustiger mit dir. Sie hat nicht mehr geweint, seit du bei uns wohnst. Ich glaube, sie mag dich wirklich.“
Ioro hatte das dringende Gefühl, dass hier nur Ehrlichkeit half. „Ich mag euch auch wirklich“, sagte er. „Euch beide. Nur – wenn ich hier bleibe, werde ich euch früher oder später schaden. Auch wenn ich es nicht will. Wenn ich dagegen zu dem Schamanen gehe, dann kann ich euch nützen. Und nicht nur euch, sondern dem ganzen Stamm.“
Mugo sah ihn weiterhin nicht an. Seine Stimme klang gepresst. „Ich hatte gehofft, du würdest mein neuer Vater werden können. Ich hatte gehofft, es würde weitere Kinder in unserem Zelt geben.“ Er zog seine mageren Schultern hoch. „Es war so still in unserem Zelt, bevor du kamst.“
„Ich bin ja nicht weg“, sagte Ioro. „Ich bleibe bei der Sippe. Ich wohne nur ein paar Zelte weiter. Du kannst mich weiterhin dafür ausschimpfen, dass ich wie ein dummer Karapaki denke. Und ich werde dich weiterhin liebhaben. Dich und Sua.“
Mugo warf sich mit einem trockenen Aufschluchzen in Ioros Arme. Ioro strich ihm über das strubbelige Haar. Irgendwann wurde er sich eines warmen Körpers hinter seinem Rücken bewusst. Dann schlang Sua ihre Arme um sie beide. Und als er endlich aufstand, um zum Zelt des Schamanen zu gehen, blieben Sua und Mugo Arm in Arm zurück und sahen ihm nach.
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Jo-im-Falken zog nachdenklich eine Schwungfeder durch seinen Schnabel, um sie zu glätten. Wer hätte gedacht, dass Ioro einmal ein richtiger Zauberer werden würde? Zwar ohne Spiegel, aber immerhin. Ganz offensichtlich konnte der Schamane mit Ioros Potenzial mehr anfangen, als Jo gedacht hatte. Hochinteressant, dieser Wüsten-Zauberer.
Falken hatten scharfe Augen. Es würde sich lohnen, einen Blick auf Ioros Ausbildung zu halten. Vielleicht fiel dabei ja auch für ihn selbst noch etwas Brauchbares ab.
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Ioros Zunge war ein Stück Leder. Seine Augenlider schienen aus Blei zu sein. Seit dem frühen Morgen waren sie jetzt schon in der Wüste unterwegs, ohne eine Rast, ohne einen einzigen Tropfen Wasser. Ioro fühlte sich wie ein Stück Bratfleisch, das zu lange auf dem Rost gelegen hatte.
Der Schamane lief vor ihm, leichtfüßig wie eine Wüstengazelle. Ihn schienen weder die sengende Sonne noch der brennende Sand etwas auszumachen. Wo, bei den Windgeistern, wollte der Schamane mit ihm hin?
Über ihnen rief der Falke seinen schrillen Vogelruf. Nichts Besonderes. Der Falke kreiste ohne ein Zeichen von Aufregung. Sie waren sicher.
Allerdings hatte Ioro auch nichts anderes angenommen. Kein karapakischer Soldat wäre so lebensmüde, sich freiwillig in diesem Teil der Wüste aufzuhalten. Und kein karapakischer General würde seinen Soldaten einen so bescheuerten Befehl geben. Karapakier waren tapfer, aber keine Selbstmörder.
Wenn der Schamane so weitermachte, würde er, Ioro, allerdings ziemlich bald ein Selbstmörder sein. Falls er nicht vorher zum Mörder wurde und den hageren Hals seines Vordermannes zudrückte.
„Aber, aber, mein junger Schüler!“, erklang die vertraute, leicht spöttische Stimme. „Du willst doch wohl nicht jetzt schon an Aufgeben denken?“
Ioro wollte antworten, brachte aber nur ein heiseres Krächzen hervor.
„Dein Vogelfreund spricht klarer als du“, beschied ihm der Schamane, ohne auch nur einen Augenblick langsamer zu werden. „Du solltest dir etwas mehr Mühe geben.“
Ioro setzte erneut an. Dieses Mal gelang es ihm, mühsam ein paar Worte herauszupressen. „Wie schaffst du das? Du hast doch genauso wenig Wasser wie ich und trotzdem siehst du so frisch aus wie bei unserem Aufbruch.“
„Übung“, gab der Schamane gleichmütig zurück. „Viel Übung.“ Nach ein paar Schritten setzte er hinzu: „Abgesehen davon: Hier ist Wasser genug vorhanden. Du benutzt es nur nicht.“
Ioro blieb entgeistert stehen. „Wasser? Hier?“
Jetzt hielt auch der Schamane an. „In der Luft ist Wasser.“
„Blödsinn. Diese Luft ist so trocken wie der Furz eines Feuergeistes.“
„Jede Luft enthält Wasser.“ Der Schamane stieß ihm den Finger auf die Brust. „Da drin, da musst du kalt genug werden, dass die Luft das Wasser für dich herausgibt.“
„Verdammt“, begehrte Ioro verzweifelt auf. „Hier ist es so heiß wie in einer Esse. Wie soll ich da inwendig kalt werden?“
„Beherrschst du deinen Körper oder beherrscht dein Körper dich?“, fragte der Schamane. Dann pfiff er nach dem Falken. Der segelte gehorsam auf Ioros Schulter. „Zeig deinem Freund, wie er mit sich selbst umgehen muss. Und mach es schnell, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“
Und der Falke öffnete sein Wissen für Ioro.
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Es war einfach, wenn man wusste, wie. Zumindest würde er nie wieder Gefahr laufen, zu verdursten. Fehlte nur noch, dass der Schamane irgendwie jetzt auch noch sein Brot aus der Luft herauszog.
„Dummkopf“, schalt Jo in seinen Gedanken. „Man kann nur Dinge herausbekommen, die enthalten sind. Luft enthält Wasser, aber kein Brot.“
„Jaja, schon gut“, brummelte Ioro. „Warum hast du mir das nicht schon früher gezeigt?“
Die Gedanken des Falken zeigten Erstaunen. „Ich habe, ehrlich gesagt, überhaupt nicht daran gedacht, dass dir dieses Wissen fehlt.“
„Offensichtlich“, warf der Schamane ein, der ihrer Unterhaltung irgendwie zu folgen schien, „hast du überhaupt nicht sehr viel nachgedacht. Noch weniger als dieser junge königliche Wirrkopf. Können wir jetzt weiter?“
„Ja“, antworteten Ioro und Jo gleichzeitig. Ioro grinste, als der Falke sich wieder in die Luft schwang. Seit seinen Unterrichtszeiten im Kloster hatte er sich nicht mehr so … so ungezwungen gefühlt.
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Am späten Nachmittag wurde der Schamane langsamer. Er sah sich suchend um und steuerte schließlich auf einen unscheinbaren Spalt in den Felsen zu. Der Spalt drehte sich und wand sich in das Gestein. Ein protestierender Ruf verriet Ioro, dass der Falke ihn nicht mehr sehen konnte. Der Schamane ging weiter, immer tiefer hinein. Von oben drang kaum noch Licht. Jetzt stieg der Boden im Spalt leicht an. Es wurde noch enger. Ein dicker Mann hätte bereits Schwierigkeiten gehabt. Nicht, dass es bei den Wüstenstämmen dicke Männer gab. Sowenig wie dicke Frauen. Dafür reichte das Essen nicht. Der Schamane ging weiter. Die Felsendecke hatte sich inzwischen über ihnen geschlossen und das Licht war einer kaum noch wahrnehmbaren Dämmerung gewichen. Ioro musste jetzt den Kopf einziehen. Au! Das war eine Umgebung für Fledermäuse, nicht für Menschen!
„Tollpatsch“, brummelte der Schamane. „Sieh gefälligst richtig hin!“
„Im Dunkeln?“
„Na und? Du hast Augen. Sie sehen nicht nur Licht. Benutze sie.“
Verdammter Schamane, musste der Mann immer in Rätseln reden? Wenn das Unterricht war, dann ein ziemlich miserabler. Ioro starrte, bis ihm fast die Augen aus dem Kopf fielen, aber er sah nichts. Dafür stieß er sich gleich mehrere Male mit diversen Körperteilen an verschiedenen Felsvorsprüngen, obwohl er jetzt den Raum vor sich vorsichtig abtastete. Schließlich gab er es auf. Fühlte nur noch seinen Weg, hörte, wie der Schamane sich ohrenscheinlich weiter und weiter entfernte, und dachte an nichts.
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