1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Also, wie ich schon sagte, ich kann dir nicht schnell helfen, und ich kann dir nicht sehr viel helfen, aber ich kann dir ein paar Tipps geben. Damit du eines Tages imstande bist, dir selbst zu helfen.”
„Bekomme ich ein besseres Angebot?”, fragte Jo.
„Nein”, sagte der Schamane.
„Dann nehme ich an.”
Leises Klirren klang durch das Zelt. Der Falke blinzelte. Er war wieder im Hier und Jetzt. Mit schwerfälligen Flügelschlägen rappelte er sich auf und flog auf die Öffnung zu. Unter ihm kramte der Schamane weiter in seinen Utensilien.
Ioro sah zum Horizont. Hinter den fernen Bergen lag Karapak. Das Land seiner Geburt. Das Land, in das er nie wieder zurückkehren konnte. Er fühlte sich leer. Es war ein gutes Leben in den Zelten der Weißspuren-Sippe, aber ihm fehlte der Zweck. Sein ganzes Leben lang hatte er Ziele gehabt. Der oberste Feldherr Karapaks hatte keine Zeit für Müßiggang.
Der Wüstenkrieger Nior dagegen schon. Und Ioro stellt fest, dass es ihm gewaltig auf die Nerven ging, wenn er nichts Richtiges zu tun hatte. Viel taten sie wirklich nicht, die Wüstenkrieger. Die Kinder hüteten die Herden, die Frauen holten Feuerholz, kochten und nähten, und die Krieger und Kriegerinnen ritten stolz auf ihren Pferden umher und brachen gelegentlich zu einem kleinen Grenz-Scharmützel auf. Das war´s dann auch schon. Die meiste Zeit saßen Frauen wie Männer lediglich im Schatten der Zelte zusammen, unterhielten sich, spielten und tranken Tee. Das hielt er unmöglich ein ganzes Leben lang aus.
„Langeweile?“
Ioro zuckte zusammen. Wo kam der Schamane bloß schon wieder her? Und wieso wusste der immer, was er gerade dachte?
„Ich hab es dir doch schon gesagt.“ Der Schamane hockte sich neben Ioro. „Dein Körper redet, auch wenn deine Zunge schweigt. Wenn du wirklich etwas verschweigen willst, solltest du lernen, deinen Körper zu beherrschen.“
„Und das lerne ich wie?“, fragte Ioro desinteressiert.
„Du könntest mein Assistent werden.“
Ioro fuhr so ruckartig herum, dass er fast das Gleichgewicht verlor. „Dein Assistent?“
Der Schamane warf ein kleines Steinchen. Es hüpfte durch den Sand.
„Warum?“
„Weil ich einen Nachfolger brauche. Ich werde nicht mehr sehr lange leben.“
„Und dazu willst du ausgerechnet mich?“
„Warum nicht?“, gab der Schamane zurück. „Du hast einige Vorzüge. Zum einen bist du ein erfahrener Mann, der bereits eine Führungsposition innehatte. Zum zweiten hast du einen hellen Kopf auf deinen sonnenverbrannten Schultern und denkst nach, bevor du handelst. Zum dritten sehe ich deiner Signatur an, dass du das Zeug zu einem verdammt guten Schamanen hast. Und es gibt natürlich noch einen sehr guten zusätzlichen Grund: Du brauchst Beschäftigung. Möglichst bevor es dir einfällt, eine Dummheit zu begehen.“
Ioro schauderte. Zauberer. Sein Vater hatte sie immer als Quelle allen Unglücks bezeichnet. Andererseits – sein Freund Jo war auch ein Zauberer. „Aber ich wurde nicht bei euch geboren. Was werden die anderen Zauberer der Stämme sagen, wenn du ausgerechnet mich wählst?
„Es gibt keine anderen“, sagte der Schamane. „Es gibt nur mich.“
„Nur einen Zauberer in der ganzen Weißspuren-Sippe?“, fragte Ioro verblüfft.
„Nur einen bei allen Sippen der Roten Zelte zusammen.“
„Warum?“
„Schamanen leben nicht lange.“
Ioro erinnerte sich. Der Schamane nährte den Zauber mit seiner eigenen Lebenskraft. „Gut. Das ist nachvollziehbar. Ich kann mir denken, warum dann nicht sehr viele zum Zauberer werden wollen.“
„Mir wäre es lieber, du würdest mich nicht Zauberer nennen“, sagte der Schamane. „Zauberer, das sind die, die mit Spiegeln arbeiten. Die, die Seelen rauben.“ Er schwieg eine Weile, bevor er fortfuhr: „Es würden durchaus mehrere der jungen Männer gerne zu Schamanen werden. Schamanen haben Macht. Macht verführt. Trotz des hohen Preises, den sie kostet. Aber wir können es uns nicht leisten, zu viele Krieger an den Zauber zu verlieren. Wir haben dem schon vor etlichen Generationen einen Riegel vorgeschoben. Unsere Gesetze sind da eindeutig. Es gibt immer nur einen Schamanen. Und der sucht sich selbst aus, wer sein Nachfolger werden soll.“
„Und wenn du gestorben wärst, bevor du einen Nachfolger ausbilden konntest?“, fragte Ioro.
„Man hat einige Privilegien als Schamane“, sagte der alte Mann. „Zufällig gehört dazu, dass wir den Zeitpunkt unseres Todes wissen.“
„Oh.“
Ioro dachte nach. Der Schamane bot ihm gerade die Lösung seines Problems an. War das wirklich so einfach?
„Ist etwas daran unehrenhaft?“, fragte er langsam.
„Nein.“ Die Antwort des Schamanen klang überzeugend.
„Und was passiert, wenn ich ablehne?“
„Dann suche ich mir einen anderen Nachfolger und du langweilst dich zu Tode.“
Schöne Aussichten. Ioro befürchtete, dass der Schamane recht hatte. Alleine der Gedanke an endlose lange Tage mit nichts außer Müßiggang ließ ihn erschaudern. Was immer der Haken war, solange er nichts Unehrenhaftes tun musste, war er einverstanden.
„Gut“, sagte er, „ich werde dein Assistent.“
„Du musst natürlich die Frau aufgeben“, sagte der Schamane beiläufig.
Was? Das konnte der nicht ernst meinen! „Warum sollte ich? Hindert mich etwa eine Frau daran, Zauberer zu werden?“
„Nein, das ist es nicht.“
Ioro konnte dem Schamanen ansehen, dass sich der anscheinend plötzlich nicht besonders wohl in seiner Haut fühlte.
„Es ist nur für einen Mann einfach zu schwierig, mit einer Frau zusammenzuleben, ohne mit ihr Sex zu haben.“
„Und?“
„Frag deinen gefiederten Freund!“
Ioro sah herüber zu dem Falken. Der drehte den Kopf zur Wüste und tat betont uninteressiert. Ioro streckte den Arm aus. „Jo, ich glaube, du solltest mir ein paar Dinge erklären.“
Der Falke erhob sich mit ein paar lustlosen Flügelschlägen und segelte auf Ioros Schulter. Gleich darauf verspürte Ioro die vertraute Gegenwart in seinem Geist.
„Er hat Recht“, sagte Jo. „Du solltest lieber ohne Frau leben. Am besten gleich ganz ohne Familie, wenn wir schon dabei sind.“
„Aber warum?“, begehrte Ioro auf. Gerade jetzt hatte er endlich eine Familie gefunden, die er lieben durfte und die ihn liebte.
Anstelle einer Antwort übermittelte Jo ihm Bilder. Ioro sah das Gesicht einer jungen, sehr attraktiven Frau. Verspürte die Lust, die Jo und diese Frau verband. Erfreute sich an der Ekstase, die selbst in der Erinnerung noch berauschend war. Fühlte das jähe Entsetzen, als die Augen der Frau brachen, ihr Körper sich auflöste und ihre leuchtende Präsenz erlosch wie eine Kerze im Winterwind. Und zusammen mit diesen Bildern übermittelte Jo ihm auch den Grund.
„Ja“, bestätigte der Schamane. „Zauberer stehlen Leben. Selbst dann, wenn es nicht ihre Absicht ist.“
„Und es sind immer die Schwächsten, die zuerst zerstört werden“, ergänzte Jo in Ioros Gedanken. „Die Kinder.“ Für einen winzigen Moment glühte in seinen Erinnerungen ein Kindergesicht auf. Ein sehr junges Kind, noch nicht einmal von der Mutterbrust entwöhnt. Und ein anderes Gesicht, das eines älteren Mädchens, müde, verbittert, das sagte: „Sie haben sie verbraucht.“
Ioro schwieg geschockt. Das wollte er auf keinen Fall.
„Und wenn ich kein Zauberer werden will?“, fragte er schließlich leise.
„Du bist bereits einer“, gab der Schamane zurück. „Du hast zu häufig Kontakt mit Zauberern gehabt. Deine latenten Fähigkeiten sind schon dabei, sich einen Weg an die Oberfläche zu suchen. Bilde ich dich nicht aus, bist du für dich und alle anderen eine Gefahr. Bilde ich dich aus, bist du wenigstens nur für dich selbst eine Gefahr.“
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