Der Fall zeigt: Ein Schluss von der Gefährlichkeit der Gewalthandlung auf das voluntative Element ist nicht automatisch möglich. Selbst im Falle eines Messerangriffs auf Kopf, Hals und Oberkörper, bei denen der Täter dem Opfer mehrere tiefe Schnittwunden zufügte und die Halsschlagader nur knapp verfehlte, hat der BGH daher eine ausreichende Darlegung des voluntativen Vorsatzelements verlangt.[74] Andererseits hat der BGH beim Anfahren einer Fußgängerin im Falle der Gleichgültigkeit gegenüber dem zwar nicht angestrebten, wohl aber hingenommenen Tod des Opfers bedingten Tötungsvorsatz bejaht[75] (in solchen Fällen ist neben §§ 212, 211, 224 I Nr. 2 und 5 StGB auch an § 315b I Nr. 3 – Stichwort: Pervertierung des Straßenverkehrs – sowie qualifizierend an § 315b III i.V.m. § 315 III StGB zu denken). Einen spektakulären Fall zur Abgrenzung von dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit liefert das aktuelle Urteil des BGH zu den Rasern vom Kurfürstendamm. Dazu folgender
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Fall 7:A und B trafen mit ihren Fahrzeugen in Berlin an der Kreuzung Kurfürstendamm/Brandenburgische Straße/Lewishamstraße an einer Ampel aufeinander. Bereits hier ließ A den Motor seines Fahrzeugs, in dem auch die Beifahrerin K saß, aufheulen. Als die Ampel grün wurde, fuhren die beiden los. Kurz hinter dieser Kreuzung blieben die beiden stehen. Hier unterhielten sie sich durch die geöffneten Seitenscheiben. A teilte dem B mit, „er sei noch mit einigen Kumpels am Wittenbergplatz verabredet.“ Der Angeklagte B sah in dem vorgehenden Aufheulenlassen des Motors zutreffend eine Aufforderung zu einem Stechen. Als das Gespräch der Angeklagten beendet war, nahm der Angeklagte B die vor dem Gespräch erfolgte Aufforderung an. Beide führten ein kurzes Stechen durch. Dieses endete an einer roten Ampel an der Kreuzung Kurfürstendamm/Olivaer Platz/Leibnizstraße. Der Angeklagte B gewann das Stechen. Der Angeklagte A ließ an dieser Ampel erneut den Motor aufheulen, was der Angeklagte B als abermalige Aufforderung zu einem Stechen interpretierte und die Aufforderung annahm. Das zweite Stechen ging bis zu Kreuzung Kurfürstendamm/Schlüterstraße. Der Angeklagte B erreichte die rote Ampel wiederum als erster und blieb stehen. Der Angeklagte A hingegen blieb nicht stehen, sondern fuhr über die rote Ampel weiter, um den Anklagten B zu einem Rennen herauszufordern. Dies erkannte der Angeklagte B und fuhr daraufhin los. Das nun folgende Rennen ging entlang des Kurfürstendamms in östliche Richtung. An der Kreuzung mit der Joachimsthaler Straße überholte B den A. Bis zu diesem Zeitpunkt überfuhren die beiden Angeklagten zwei Kreuzungen mit roten Ampeln. Der Angeklagte B durchfuhr als erster die Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit einer Geschwindigkeit von etwa 90-100 km/h. A durchfuhr die Kurve mit 120-130 km/h, was im Bereich der Kurvengrenzgeschwindigkeit lag. A beschleunigte sein Fahrzeug ab dem Kurvenausgang maximal, um B noch einholen und das Rennen gewinnen zu können. B realisierte, dass A nun Vollgas gab und beschleunigte ebenfalls. Ca. 90 Meter vor der Unfallkreuzung ging B kurz vom Gas und gab dann ebenfalls Vollgas. Die beiden fuhren mit hoher Geschwindigkeit auf die Unfallkreuzung Tauentzienstraße/Nürnberger Straße zu, wobei die dortige Ampel bereits seitdem die Angeklagten durch die Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche fuhren für beide erkennbar rot war. A kollidierte in der Kreuzung Tauentzienstraße/Nürnberger Straße mit einem von rechts kommenden Fahrzeug des W, der hierdurch auf der Stelle getötet wurde. Der Wagen des A wurde nach links gegen das Fahrzeug des B geschleudert, sodass beide Autos mit einer Geschwindigkeit von 140 km/h gegen ein Hochbeet prallten. Dabei wurde K, die Beifahrerin des A, schwer verletzt. Strafbarkeit des A? ( Ku'dammraser-Fallverkürzt nach BGH NStZ 2020, 602[76]). Zusatzfrage:Wie ist die Strafbarkeit des B zu beurteilen, der nicht mit W kollidierte? Für die Zusatzfrage genügt eine Beantwortung im Urteilsstil.
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Lösung:
Hinweis: Denkbar wäre eine Trennung nach den Opfern W und K. Da vorliegend aber auch Delikte zum Schutze des Straßenverkehrs (§§ 315d und 315c StGB) einschlägig sind, wäre dies eine ungünstige Vorgehensweise, weil diese Delikte keinen konkret opferbezogenen Charakter haben (besonders deutlich zeigt sich dies bei § 315d I).
I.In Betracht kommt eine Strafbarkeit des A wegen vorsätzlichen Totschlags nach § 212 StGB an W
1. Tatbestandsmäßigkeit
a)Objektiver Tatbestand Der Erfolg, der Tod eines Menschen, ist eingetreten und wurde von A auch kausal und zurechenbar bewirkt.
b)Subjektiver Tatbestand Fraglich ist, ob A einen hinreichenden Vorsatz hinsichtlich der Tatbestandsverwirklichung einer Tötung hatte.
aa)Die 35. Kammer des LG Berlin war hier im ersten Urteil davon ausgegangen, dass A die für den bedingten Vorsatz notwendige Möglichkeitsvorstellung hinsichtlich eines tödlichen Ausgangs für andere Verkehrsteilnehmer spätestens erkannt und billigend in Kauf genommen hatte, als sie in die Unfallkreuzung einfuhren.[77] Zu diesem Zeitpunkt, so die 35. Kammer des LG Berlin, hätten die Angeklagten jedoch bereits keine Möglichkeit mehr gehabt, den Unfall zu verhindern, da es im Urteil hieß, diese seien „absolut unfähig gewesen, noch zu reagieren“. Der BGH kassierte dieses Urteil daher zu Recht. § 16 StGB verlange, dass der Tatbestandsvorsatz „bei Begehung der Tat“ vorliegt, was § 8 StGB dadurch präzisiert, dass er den Zeitpunkt der tatbestandlichen Ausführungshandlung für maßgeblich erklärt. Damit, so der BGH, werde klargestellt, dass der Vorsatz zum Zeitpunkt der tatbestandlichen Ausführungshandlung gegeben sein muss (sog. Koinzidenz- oder Simultaneitätsprinzip).[78] Ein zeitlich davor wirkender dolus antecedens oder ein – wie hier – erst später wirkender dolus subsequens genüge dagegen nicht. Spätestens als das Fahrzeug bereits unverhinderbar auf das Opfer „zuflog“, wäre dies für die Vorsatzbildung zu spät gewesen, da Vorsatz als Kausalverläufe steuernder Verwirklichungswille zu begreifen ist,[79] der aber nicht vorliegen kann, wenn der Wille erst dann gefasst wird, wenn der Kausalverlauf den Händen des Täters bereits entglitten ist.
Die nach Zurückverweisung zuständige 32. Kammer des LG Berlin[80] verlegte nunmehr den Zeitpunkt der Vorsatzbildung auf ca. 100m vor der Kreuzung. Dort habe A im Kurvenausgang vor der Kreuzung noch einmal maximal beschleunigt, sodass dies den Zeitpunkt der Entstehung des bedingten Tötungsvorsatzes markiere. Am Ende bleibt hier vieles Spekulation. Ebenso gut könnte man davon ausgehen, dass A durch die nochmalige Erhöhung der Geschwindigkeit in Selbstüberschätzung darauf vertraute, er werde die Kreuzung noch rechtzeitig vor einem auf die Kreuzung einfahrenden Wagen überqueren können.[81]
bb)Unabhängig von der zeitlichen Komponente hatte der 4. Senat des BGH im vorliegenden Fall in seinem Revisionsurteil aus dem Jahre 2018[82] auch aus grundsätzlichen Erwägungen am Vorliegen eines bedingten Tötungsvorsatzes gezweifelt. Er wies dabei auf die in ständiger Rechtsprechung vertretene Notwendigkeit einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände hin, und betont einmal mehr, dass die Gefährlichkeit der Tathandlung und die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts keine allein ausschlaggebenden Kriterien für die Feststellung des bedingten Vorsatzes sein können.[83] Der 4. Senat betonte diesbezüglich, dass die Annahme einer nicht in Kauf genommenen Eigengefährdung bei gleichzeitig in Kauf genommener Fremdgefährdung unzureichend belegt worden sei.[84] Es gebe keinen Erfahrungssatz, wonach sich Fahrer in Automobilen mit hoher Sicherheitsausstattung regelmäßig sicher fühlten.[85] Bereits darin liege ein Widerspruch, der zur Aufhebung des Urteils zwinge. Dem war zuzustimmen und es sprachen auch noch weitere Gesichtspunkte gegen einen bedingten Tötungsvorsatz:[86] So setzt etwa die Vereinbarung eines konkreten Rennzieles regelmäßig voraus, dass diese Zielerreichung den Fahrern trotz Überquerens zahlreicher Kreuzungen bei Rotlicht möglich erscheint. Darüber hinaus war es auch widersprüchlich, wenn das LG Berlin aus dem Adrenalinrausch, in dem sich die Fahrer nach den tatrichterlichen Feststellungen befanden, zwar folgerte, dass die Fahrer eine mögliche Eigengefährdung ausgeschlossen, eine Fremdgefährdung aber uneingeschränkt für möglich gehalten haben. Und schließlich musste A sogar von höheren Eigengefährdungen ausgehen, da nicht nur ein Pkw, sondern auch ein Lkw hätte kreuzen können.
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