„Daphne, heute ist deine erste Seereise. Ich hoffe, du bist seefest, wir werden ein bewegtes Meer erleben.“
„Vater, ich weiß, dass ich das Schaukeln der Wellen vertrage. Ansonsten hätte ich dich gebeten, in Roma zu bleiben. Wie oft habe ich von der Terrasse unserer Villa in Baiae auf das Meer geschaut und mir gewünscht, es zu befahren. Sorge dich nicht um mich.“
Bald darauf verließen sie das Hafenbecken, Daphne stand auf Deck, um nichts zu verpassen. Um kein anderes Schiff zu rammen, segelten sie langsam vorbei an Lagerhäusern und an dem Leuchtturm, der über dem Wrack des Schiffes erbaut war, das unter Kaiser Caligula einen Obelisken aus der Provinz Aegyptus (Ägypten) nach Roma gebracht hatte.
„Sieh Vater, dort am Eingang des Hafens steht eine Statue des Gottes Poseidon. In den Händen hält er einen Dreizack und ein Zepter.“
„In vielen Häfen des Römischen Reiches bewacht Poseidon die Ein- und Ausfahrt der Schiffe, Daphne. Wie du weißt, ist er der Schutzgott der Meere, der Flüsse und der Erdbeben. Häufig wird seine Skulptur von einem Delfin und einem Seepferdchen begleitet.“
Wie der Senator es vorausgesehen hatte, war das Tyrrhenische Meer für diese Jahreszeit zu unruhig, sodass es den Ruderern schwerfiel, den Kurs zu halten. Dunkle Wellen donnerten an die Seiten des Schiffes und schwappten über die Reling. Daphne genoss die frische Seeluft und war kaum davon zu überzeugen, ihre Kabine aufzusuchen, um ihre nass gewordene Tunika zu wechseln.
Die Schiffsroute führte entlang der Westküste, vorbei an Neapolis (Neapel) durch die Straße von Messina, entlang der Ostküste von Sicilia nach Rating, wo sie den Anker warfen. Als das Schiff am Kai festgemacht hatte, kam ein stattlich aussehender Fremder an Deck. Er begrüßte sie mit eleganter, leicht angedeuteter Verbeugung und sagte mit melodischer Stimme:
„Verehrter Senator, ich habe die Ehre Sie im Namen unseres Augustus Maximian auf Sicilia begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, Sie hatten eine ruhige Überfahrt, manchmal kann unser Meer tückisch sein.“
Der Fremde verbeugte sich ein zweites Mal und stellte sich als Gast des Kaisers mit Namen Gaius Antonius Rufus Vitruv vor. Der Mann betonte, dass es ihm nicht nur eine Ehre, sondern ein Vergnügen sei, die hochverehrten Gäste zu ihrem Reiseziel zu begleiten.
Nachdem ihr Gepäck verstaut war, wurden sie unter dem Schutz kaiserlichen Soldaten und dem Beifall Schaulustiger, die die staubigen Wege säumten, in das nahegelegene Haus des Provinzstatthalters geleitet. Vor der Weiterreise ins Landesinnere würden sie dort eine Erfrischung zu sich nehmen.
In Vertretung des Statthalters, der auf einer Inspektionsreise auf der Insel Sardinia (Sardinien) weilte, begrüßte sie sein Stellvertreter. Ungeübt im Umgang mit kaiserlichen Gästen wedelte er mit ständigen Verbeugungen aufgeregt um sie herum. Im triclinium waren alle Köstlichkeiten Sicilias aufgetischt. Daphne beteiligte sich wenig an der munteren Unterhaltung. Denn sie erkannte, dass es sich bei dem Fremden um den Mann handelte, von dem ihr Vater ihr am Abend vor ihrer Abreise erzählt hatte, der Mann, der sie heiraten wollte.
Vitruv, ein entfernter Verwandter und Jugendfreund Kaiser Maximians aus der Provinz Pannonia, hatte sich über die Militia equestris, die ritterliche Laufbahn, in der Armee hochgedient und deren vier Rangstufen durchlaufen. Zuletzt kämpfte er unter dem Oberkommando Kaiser Maximians als praefectus alae milliariae (Kommandant einer Reitereinheit von 1000 Mann) gegen die Germanen an den Grenzen von Gallia. Mit Kaiser Diocletian hatte er am Denuvius gegen die Goten gekämpft. Kaiser Maximian war im April des Jahres 286 von Kaiser Diocletian zum Augustus des Westens ernannt worden. Beide Augusti planten, Vitruv im Jahr 288 zum Statthalter der neu geschaffenen Provinz Belgica prima zu ernennen.
Auf Daphne wirkte Vitruv wie ein Wesen aus einer anderen Welt; er glitzerte und schimmerte, wie sie es noch nie bei einem Menschen wahrgenommen hatte. Für den Rest der Reise sah sie verwirrt auf ihre Füße und brachte entgegen ihrer Gewohnheit kaum ein Wort heraus. Erst am Abend, als sie endlich in ihrem komfortablen Bett lag, beruhigte sich ihr Herz.
Nach dem köstlichen Mahl, von dem Daphne nur Häppchen zu sich nahm, verließen sie mit vielen höflichen Dankesbezeugungen ihren erleichterten Gastgeber. Unter Hurrarufen der Bevölkerung stiegen sie in die bequemen kaiserlichen Reisewagen und fuhren über die vortrefflich ausgebaute Via Publica, die von Rating nach Agrigentum (Agrigent) führte. Bei Castrum Hennae (Enna) verließen sie die Straße, und befestigte Wege führten sie ins Landesinnere. Nach mehr als dreißig Kilometern bogen sie in eine Allee ein, die sie an ihr Ziel brachte.
Die Villa Kaiser Maximians stand unterhalb des Hügels Monte Mangone, der auf einem halbkreisförmigen Plateau am linken Hang eines kleinen Tals lag, durch das der Fluss Gela floss.
Geschickt hatte der Architekt die Hanglage der Terrains ausgenutzt und den Bau über drei Ebenen errichtet. Als Erstes sah man die Thermen, erbaut in der gleichen axillaren Abfolge wie die von Roma.
Der Senator und Daphne stiegen aus, und Vitruv geleitete sie zu dem monumentalen dreitorigen Eingang, in dessen Nischen Wasserbecken eingelassen waren und Seerosen schwammen. Das mittlere Tor führte zu einem mit Marmorsäulen eingefassten Hof mit einem Boden, den ein zweifarbiges Mosaik in Schuppenmusterung schmückte. In der Mitte des Hofes stand ein quadratischer Springbrunnen, aus dem Fontänen in die Luft stiegen. Hier kam ihnen der Haushofmeister des Kaisers mit Namen Plautus entgegen, ein kleingewachsener schmächtiger Mann, dessen leicht nach vorn gebeugter Oberkörper die dienende Haltung seines Amtes angenommen hatte. Während er sich mehrmals tief verbeugte, begrüßte er sie leise mit hoher Stimme im Namen seines Herrn. Wenige Jahre zuvor hatte Kaiser Maximian Plautus in der Provinz Hispania kennengelernt. Schnell erkannte er die Fähigkeiten des Sklaven, kaufte ihn seinem Besitzer, dem römischen Statthalter der Provinz, für wenig Geld ab und rettete ihn damit vor der Kreuzigung. Plautus hatte sich des Mordes an einem Nebenbuhler schuldig gemacht: Ein Streit um die Gunst eines zarten Knaben eskalierte, und kurzerhand erschlug Plautus den Mann mit der Axt. Kaiser Maximian setzte ihn in seiner Residenz in Mediolanum als Haushofmeister ein und wirbelte damit die Hierarchie innerhalb der Dienerschaft kräftig durcheinander, denn viele der altgedienten Höflinge hatten sich auf das einflussreiche Amt Hoffnung gemacht. Bis zu seinem frühen Tod, der ihn durch das Messer eines Lustjungen in einem dunklen Nebenzimmer einer Spelunke in Roma ereilte, war Plautus seinem Herrn treu ergeben. Überall spitzte er für Maximian seine Ohren, und nicht nur die Sklaven fürchteten ihn. Auch Eutropia, Maximians Ehefrau, und sein Sohn Maxentius, ein wilder Junge mit schielendem Blick, der selten vor etwas Angst hatte, bemühten sich Plautus nicht zu verärgern. Jetzt ließ Plautus es sich nicht nehmen, die verehrten Gäste in ihre Zimmer im Gästetrakt der Villa zu geleiten, wo sie Gelegenheit erhielten, sich von der anstrengenden Reise zu erholen.
Am frühen Abend holten sie prächtig gekleidete Haussklaven aus ihren Gästezimmern ab. Sie geleiteten sie durch das Peristylium, einem von Säulen umgebenen Hof, und weiter durch einen Innenhof. Dann durchquerten sie den „Wandelgang der großen Jagd“, der aufwendig mit Jagdszenen ausgeschmückt worden war, und gelangten in den Audienzsaal der Villa. Der rechteckige Raum endete an der Kopfseite in einer Apsis, in der eine marmorne Statue des Herkules stand.
Kaiser Maximian empfing sie sitzend auf einem Thron in der Apsis, deren Fenster reich verzierte Lünetten (Bogenfelder) schmückten. Tiefer standen, seine Ehefrau Eutropia und ein großer freundlich lächelnder Mann, dessen ausdrucksvolle Präsenz nur Maximian nicht in den Hintergrund treten ließ. Als der Senator und Daphne dem Kaiser die Ehre erweisend sich auf die Knie niederließen, um den Saum der kaiserlichen Tunika zu küssen, erhob sich Maximian und half dem Senator, sich wiederaufzurichten.
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