„Aber Frau Schiffmann!“
Später, als die Runde wieder an Fröhlichkeit zugenommen hatte und die Zeit vorangeschritten war, kam Lissy an den Tisch und flüsterte Overbeck zu: „Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Nachtruhe. Ihr Bett ist gemacht. Ich werde Ihnen Ihr Zimmer nachher zeigen.“
Dienstag, 14:40 Uhr,
Im Nachbarort
Erwin Schulze hat gerade eine Ortsbegehung mit dem Bauausschuss im Greimerather Außenbereich hinter sich gebracht. Es gab wieder einmal eine harte Grundsatz-Diskussion über die Investition von Gemeindegeldern in neues Bauland. Schulze steht seit etwa einem Jahr der Gemeinde vor und hat sich während dieser kurzen Zeit den Respekt und die Sympathie der Dorfbewohner erworben. Nicht aller, natürlich nicht. Das wäre zu viel des Guten. So ein Zustand kann in keiner Gemeinde, sei sie noch so klein, oder so groß, herrschen, aber die Zahl der Befürworter ist mehr als durchschnittlich hoch. Auch die Opposition behandelt Schulze mit Respekt. Doch heute ist man auf einen Nenner gekommen und hat sich geeinigt, die Begehung zu einem späteren Zeitpunkt, nach erneuten Beratungen im Gemeinderat nachzuholen.
Schulze schaut auf seine Armbanduhr. 14.40 Uhr. Seine Kollegen sind mit ihren Fahrzeugen nach Hause, runter ins Dorf gefahren, er selbst zog es vor, den rund einen Kilometer weiten Weg zu Fuß anzutreten. Schulze ist Frührentner und hatte nach niemandem zu fragen. Seit er sich bei einem Verkehrsunfall einen bleibenden Wirbelschaden zugezogen hatte und seinen Beruf als Fleischermeister nicht mehr ausführen konnte, hatte er seine Interessen der Kommunalpolitik zugewandt, in der er gänzlich aufging. Er ist in diesem Jahr 59 Jahre alt geworden und bis zur Rente wäre es kein langer Weg mehr gewesen. Aus dieser Sicht gesehen, kommt er mit dem vorzeiten Ruhestand einigermaßen gut klar.
Nun schlendert er gemütlichen Schrittes über den geteerten Feldweg oberhalb Greimeraths und sieht über seine Gemeinde mit dem Kirchturm, der aus dem Dorfkessel emporragt und blickt über das Dorf hinweg zum Schneeberg hinüber. Der Himmel hat sich inzwischen verdunkelt und Schulze bereut es fast, nicht mit seinen Kollegen hinunter ins Dorf gefahren zu sein. Doch wer ihn kennt, der weiß, dass er es meist so handhabt, dass er gerne einige Wegstrecken zu Fuß hinter sich bringt.
Er schaut zum Himmel, wo sich seiner Meinung nach ein Unwetter zusammenbraut. Fünfzig Meter vor ihm taucht die Banneux-Kapelle auf, eine kleine Wegekapelle, die der Gottesmutter zu Ehren dort aufgestellt worden war und die von den Greimerather Frauen in Ordnung gehalten und mit Blumen bestückt wird. Wenn es gleich regnete, böte sich ihm eine Möglichkeit, während es Unwetters dort Unterschlupf zu finden.
Es sind noch rund 30 Meter, als die ersten Tropfen fallen. Schulze zieht den Kopf in den Kragen seiner dünnen Sommerjacke und beschleunigt seine Schritte. Die Regentropfen werden größer und schließlich prasselt der Regen auf ihn nieder. Noch fünf Meter, noch drei, noch zwei. Dann hat er die Kapelle erreicht.
Zu spät stellt er fest, dass er nicht die einzige Person in der Kapelle ist. Doch es hat nicht den Anschein, dass der andere sich des Regens wegen dort untergestellt hat. Er hat auf ihn, Schultze, gewartet.
Als er beim Betreten der Kapelle den Kopf hebt und seinen durchnässten Jackenkragen ordnen will, packt ihn eine kräftige Hand und dreht seinen Körper herum, so dass er kaum Gelegenheit hat, zu sehen, wer da sein übles Spiel mit ihm treibt. In der Drehung sieht er jedoch für einen kurzen Moment die schmalen Augen hinter den Öffnungen einer Wollmaske. Dann spürt er einen Schlag auf seinem Hinterkopf und augenblicklich verliert er das Bewusstsein. Er spürt nicht mehr, wie er in sich zusammensackt und von den Händen des Angreifers festgehalten sanft auf den Boden des engen Raumes gleitet.
Der schlanke Mann, dessen Kraft mittels des Überraschungseffekts ausgereicht hat, Schulze, ohne dass es zu einer Gegenwehr kam, zu bezwingen, beugt sich über den Reglosen. Er scheint keine Zeit verlieren zu wollen, denn er greift in eine der zahlreichen Taschen seiner dunklen Wanderjacke und bringt einige Dinge zum Vorschein, die er vor sich auf dem Boden neben dem Daliegenden ablegt. Da ist ein steril verpackter Verband, wie er in Auto-Apotheken obligatorisch ist, eine Packung Pflaster, eine Rolle Klebeband und zwei Allzweck-Latex-Handschuhe. Als letztes bringt er ein kleines eingeschweißtes schmales Etwas zum Vorschein.
Er streift die Handschuhe über und vorsichtig öffnet er die Verpackung. Zum Vorschein kommt ein medizinisches Skalpell, wie es in Krankenhäusern zu Operationen Anwendung findet. Die Klinge schimmert silbern, als er sie gegen den Regen ins fahle Tageslicht hält.
Der Mann betrachtet kurz das sonst in klinischer Umgebung gebräuchliche Utensil in seiner Hand, dann sieht er auf den reglos Daliegenden nieder. Schließlich beugt er sich entschlossen über ihn und fasst nach seiner linken Hand.
Der Blitz aus dem wolkenverhangenen Himmel ist grell und kommt überraschend. Der darauffolgende anhaltende Donner lässt den Schrei Schultes im Vakuum der Naturgewalten verpuffen.
Podcast
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Mittwoch, 15:30 Uhr,
Forstenau, Bürgermeisteramt
„Sie sehen, meine Herren, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“
Bürgermeister Walter Anders marschierte in seinem Büro von einem Ende zum anderen und verfluchte den Tag, an dem die beiden Beamten des Ministeriums in sein Domizil eingedrungen waren. Da saßen sie nun, selbstgefällig, wie er zu erkennen glaubte, nur auf einen Fehler von ihm hoffend, alle Schuld auf ihn abzuwälzend. Martin Czypansicz und Harald Breuer, vom Ministerium in einer mehr oder weniger belanglosen Angelegenheit nach Forstenau entsandt, standen nun bis zu den Knöcheln in einer fatalen Situation, von der sie nicht –noch nicht- annahmen, dass es ihre eigene würde werden können.
Das hatte Anders gerade noch gefehlt, ein Kontrollorgan in einer der heikelsten Situationen, die man sich vorstellen konnte. War die Situation tatsächlich heikel? fragte er sich. Er sah auf seine Armbanduhr. 15.30 Uhr. Das Ultimatum, dass der Anrufer gestellt hatte, war um 14 Uhr abgelaufen. Nichts war passiert seitdem. Also war es so, wie er es sich vorgestellt hatte: da wollte jemand die Behörde mal einfach so durcheinanderwirbeln. Aber nicht mit uns , dachte Anders. Nicht mit uns . Eine Nachricht im Internet, auf unserer Website, das wäre ja noch schöner. Und die beiden dort am Tisch. Es wird Zeit, dass sie die Heimreise nach Mainz antreten. Ich werde mich jetzt von ihnen verabschieden, ist ja nicht so, als mache sich die Arbeit in der Verwaltung von selbst. Jetzt ist es genug.
„Meine Herren …“, setze Anders an, doch ein markerschütternder Schrei, der offensichtlich aus dem Vorzimmer, dem Chefsekretariat kam, ließ ihn verstummen. Für einen kurzen Moment herrschte Totenstille. Die beiden Beamten aus Mainz saßen mit offenen Mündern auf ihren Stühlen und starrten auf Anders, der wiederum seinen Blick auf die Zwischentür gerichtet hatte.
Dann war er erneut da, der Schrei.
Die Tür öffnete sich und Verena Becker stand kreidebleich in der Öffnung.
„Die P … Post!“, stotterte sie. „Da ist was mit der Post …“
„Warum schreien Sie denn so?“, unterbrach sie Anders mit leichten Zornesfalten auf der Stirn. „Was gibt es denn? Ist dieser Ortsbürgermeister aus …?“ Er stockte, als er Verenas Gesichtsausdruck sah. „Was ist mit der Post?“
„Sehen Sie es sich selber an“, hauchte Verena, drehte sich frontal zu ihrem Zimmer, zeigte mit dem Finger in Richtung ihres Schreibtisches, bewegte sich jedoch langsam immer weiter rückwärts in das Büro von Anders, als stünde der Leibhaftige vor ihr.
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