Jetzt geht ein Ruck durch ihren Körper. Steht sie auf? Tatsächlich, sie erhebt sich, zieht eine Schleife und bewegt sich geradezu auf meinen Platz im Café zu. Selbstverständlich tue ich so, als würde ich sie nicht bemerken, in dem ich belanglos in der Bestellkarte blättere, sie dennoch im Blick behalte. Was plant sie? Plant sie überhaupt etwas oder ist ihr Kommen nur ein Zufall? Wer will bei dieser abgebrühten Person daran glauben wollen? Ich jedenfalls nicht! Und tatsächlich schiebt sie sich dicht an meinem Platz vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und doch geht eine kaum wahrnehmbare Bewegung durch ihre rechte Hand. Und schon ist sie weg! Puuuh, jetzt kann ich erst einmal tief ausatmen. Unverzüglich geht mein Blick in Richtung meines Platzes auf die Bank. Mein Platz ist frei. Sofort rufe ich nach dem Kellner, entscheide mich, nicht zu warten, sondern lege entsprechendes Kleingeld auf den Tisch. Dabei fällt mein Blick auf einen zusammengefalteten Zettel. Der hat doch eben hier noch nicht gelegen? Hastig greife ich zu und laufe schnurstracks zu meinem Platz, damit dieser nicht wieder besetzt werden kann. Geschafft! Erst einmal Sitzen und wieder eingewöhnen. Jetzt fällt mir auf, ich halte immer noch den Zettel in meiner Hand. Langsam falte ich dieses hastig aus einem Kalender gerissene Blatt auseinander. In dicker Schrift steht dort eine Handynummer notiert und ein Smiley ist danebengesetzt worden.
Eine Telefonnummer? Was bedeutet das? Wessen Telefonnummer soll das sein? Ruhig! Erst einmal die Nerven bewahren und nachdenken. Wenigstens sitze ich auf meinem Platz und den kann mir erst einmal keiner wegnehmen. Der wird mich beruhigen und klare Gedanken bringen.
»Aaahhh!«, muss ich laut und unbemerkt ausgerufen haben.
»Ist Ihnen nicht gut?«, höre ich eine besorgte Stimme neben mir.
»Doch, doch! Alles gut!«
*
Wo bleiben eigentlich die klaren Gedanken nach all den Geschehnissen der letzten Wochen? Offensichtlich bin ich nicht nur angeschlagen, sondern verwirrt. Nach einer Weile: Ich werde jetzt erst einmal ein paar Tage wegfahren und Urlaub machen, um auf andere Gedanken zu kommen. Doch leichter gesagt als getan. Zwar bin ich mit dem Auto an die Ostseeküste über Rostock nach Fischland-Darß gefahren und tummele mich mittlerweile unter den normalen Urlaubern. Doch dass es mir Spaß macht, kann ich nicht ausdrücklich sagen. Ja, ich laufe in Ahrenshoop durch die Galerien, besuche das Kunstmuseum Ahrenshoop, welches für mich einen schönen Anblick bietet und nur wenig entfernt von der Steilküste am „Weg zum Hohen Ufer“ liegt. Sehr bewegend wie zugleich auch beruhigend, denn auch diesmal liegt die Ostsee wie ein Spiegel vor mir.
Jedes Mal entdecke ich irgendwelche Kleinigkeiten, an denen vermutlich viele Besucher blind vorbeischlendern. In eine Föhre haben vor langer Zeit, genauer 1914, zwei Menschen ihre Namen eingeritzt und einen eierförmigen Kreis, vielleicht besaß die Figur früher einmal die Andeutung eines Herzens, die aufgrund des Wachstums nunmehr verloren gegangen ist, drum herum geritzt. Auch die Namen sind mitgewachsen, dennoch gut zu lesen. Friedrich und Liselotte stehen dort. Aber, was ich viel immanenter empfinde: Sie haben das Wort „Hoffnung“ daruntergeschrieben.
Hoffnung! Eigentlich ein simples Wort, bestehend aus nur acht Buchstaben, jedoch mit einer großen Wucht an Bedeutung ausgestattet. Ich habe meine Hoffnung mit meiner Freundin verloren. Wir hatten eine gemeinsame Zukunft geplant und daran geglaubt. Und dennoch lebt eine neue Hoffnung in mir weiter!
Seit geraumer Zeit herrschen zumindest in Europa relativ friedliche Zeiten, jedenfalls tobt kein großer Krieg! Wie jedoch hat es sich mit Friedrich und Liselotte verhalten?, geht mir durch den Kopf. 1914 war ein schwieriges Jahr und zugleich ein Schicksalsjahr für das Deutsche Reich. Und natürlich möchte ich auch nicht die anderen Länder vergessen.
Wieder einmal hatten zuvor die europäischen Mächte mit ihren sogenannten Waffenhufen gescharrt und letztlich diese auch in Bewegung gesetzt. Und am Geschirr dieser Pferde hingen wie zuvor auch die Lafetten und Geschütze. Hinter diesen liefen „blindwütig“ gehorsam junge Männer, im Glauben für eine gute Sache tätig zu sein.
Ja, ich habe etliche Bilder aus dieser Zeit betrachten können, auf denen große „Verabschiedungsfeiern“ abgebildet sind, auf denen Schulklassen, Familien, allesamt mit Fahnen wedelnd und Blumen grüßend aufgestellt sind. Zumeist sind diese Karten mit martialischen Sprüchen übertitelt wie in etwa „ Bald werdet ihr die Sieger bekränzen! Oder „ Vorwärts mit Gott!“ Oder „ Siegreich kommen wir zurück!“ oder….. Glorie wie Siegesgewissheit spricht aus den Gesichtern der jungen wie alten Soldaten und aus ihren Augen bricht eine Zuversicht, Begeisterung und Stolz hervor, die sicher viel zu berichten hätten.
Nur Jahre später vermittelten diese Bilder ganz andere Werte und von Würde war darauf nichts mehr zu entdecken. Zerlumpte, gebrochene und verwilderte Gestalten auf Krücken, denen die Beine abgeschossen waren, etliche, die Augenbinden trugen, weil sie erblindet waren, waren zurückgekommen. Oftmals gab es nur noch alte Bilder Trauer beflort als Erinnerung im Haus, weil die Männer und Kinder erschossen oder mit Giftgas getötet worden waren. Der einstige Stolz war dem Elend gewichen. Und noch etwas fällt auf: Diese Jünglinge von siebzehn bis Anfang zwanzig sahen wie ihre eigenen Väter aus. Gealtert in ein paar Kriegsjahren um eine Generation.
Und diesmal, bei ihrer schmachvollen Rückkehr standen nicht die Stadthonoratioren im Vordergrund, sondern die wenigen und trauernden Angehörigen, die wie immer die Überreste ihrer Soldaten nach Hause schleifen durften. Die Honoratioren hatten sich hinter ihre festen Mauern zurückgezogen und lebten dort in ihrer Scheinwelt weiter und betrieben dort das nahezu endlose Spiel der gegenseitigen Beschimpfungen und Schuldzuweisungen. Beschämend und welch Hohn auf die Opfer und Tränen der Menschen. Doch Schuld besaß auch wie immer niemand an dieser Situation, denn die Anordnung war „von oben“ gekommen und musste unbedingt ausgeführt werden. Verflucht seien diese wahnsinnigen, gefühlslosen Geister. Augenblicklich würde man sich einen ausgleichenden, friedvollen Geist, so wie es Jesus einmal gewesen ist, wünschen. Jedoch zu viel Zeit ist seitdem vergangen und diese Hoffnung in Vergessenheit geraten! Nur manchmal piepst eine schwache Mäusestimme von irgendwo auf, über die von allen Seiten gleichzeitig eingeschrien und die sofort zum Schweigen gebracht wird. Hoffnung vice versa Realität!
Wie es Friedrich und Liselotte ergangen ist, wissen wir nicht und werden es auch nicht erfahren?
Nur ein paar Zentimeter höher sind zwei weitere Namen eingeritzt worden. Diese sind 1939, also 25 Jahre später dazugekommen. Karl und Hermann sind dort zu lesen. Und wieder ist ein Kreis um die Namen eingekerbt worden. Und auch ein Zusatz steht dort zu lesen: „Hoffnung! Gibt es die?“ Vermutlich hatten die beiden ihre Einberufung erhalten und waren dann zu diesem Baum gelaufen, um sich auch dort zu verewigen. Möglicherweise waren es Freunde, vielleicht auch Brüder, die dieses Mal in den geschichtlichen Ofen des Krieges geworfen werden sollten. Möglicherweise waren es Kinder von Friedrich und Liselotte?
Tatsächlich ließe sich sehr viel darüber spekulieren und konstruieren. Aber ganz ehrlich: Was würde es helfen?
Und was mache ich? Ich hole ein kleines Messer aus der Tasche. Wie allein zieht die Klinge ihre Bewegung auf dem starken Stamm: „Hoffnung! Die gibt es immer! Denn wer diese aufgibt, gibt sich selbst auf!“
Ich werde in ein paar Jahren wieder diesen Baum besuchen kommen und nachschauen gehen. Möglicherweise befinden sich die nächsten Namen und auch ein weiterer Spruch dort auf dem Stamm. Allerdings, so könnte ich mir genauso vorstellen, dass dieser Baum gefällt worden ist, um jegliche Schulddiskussion im Keim zu ersticken. Mal sehen, was ich dort vorfinden werde?
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