Die Fischbrötchen in dem zentral gelegenen Imbiss sind berühmt, wie auch sehr begehrt. Man darf nicht zu spät kommen, um noch ein paar Leckereien erwerben zu können. Immer, wenn ich solch einschneidende Erlebnisse erlebe, fängt augenblicklich mein Magen wie ein Hund zu knurren an. Dieser Imbiss befindet sich in Schrittweite von dem Baum und mir. Und so lege ich die kurze Strecke zu Fuß zurück. Bereits etliche Meter zuvor kündigt sich der Betrieb durch den angenehmen Geruch an. Auch diesmal herrscht dort ein großes Treiben. Es gelingt mir, zwei unterschiedlich belegte Brötchen zu bekommen. Wie gesagt: sehr lecker und sehr empfehlenswert! Ein befriedeter Magen lenkt mich sofort von meinem Problem oder den Gedanken darüber ab. Ist er erst angefüllt, wandelt seine peristaltische Arbeit meine Gedanken in Wärme um und erzeugt sogleich angenehme Gefühle in mir.
So laufe ich zum Strand, lege mich in die wärmende Sonne und beginne die Umgebung zu beobachten. Diverse Küstenvögel tummeln sich auf dem Sandboden. Hier und da schreit ein Vogel auf. Gerade jetzt kommt eine Möwe mit ihrem Fang angeflogen. Sie trägt eine lebende Scholle in ihrem gebogenen Schnabel, wobei sich der Fisch mit Körperschlägen befreien will. Nur unweit von mir landet die Möwe und legt die Scholle im Sand ab und hält sie mit einem ihrer Füße fest. Immer noch, versucht der Fisch sich mit seiner Schlagbewegung zu wehren. Aussichtslos! Ins Wasser kommt sie auf keinen Fall zurück.
Die Möwe ist durch meinen Anblick ganz offensichtlich irritiert. Bin ich ein Feind für sie? Ständig schaut sie aufgeregt zu mir hinüber. Jetzt schleppt sie die Scholle ein paar Meter weiter weg von mir. Sicherheitsabstand! Und auch die anderen Möwen, denen man ansieht, dass sie Appetit auf den Fang bekommen haben, kreisen ständig über der Fängerin und auch über mir. Ihr Kri Kri ist laut und hektisch! Das Gezappel des Fisches scheint mittlerweile auch die Fängerin zu nerven, denn jetzt schlägt sie ihren Schnabel mehrfach in den Fisch hinein, bis dieser ruhig geworden ist. Ständig schaut sie dabei um sich, um Angriffe ihrer Artgenossen sofort unterbinden zu können. Misstrauisch steigt sie mit ihrem toten Fang auf und fliegt etwa 40 Meter weiter ins seichte Wasser schaukelt dort mit den Wellen. Was nun geschieht, kann ich nicht mehr beobachten. Zuvor habe ich versucht, etwas aus den Augen des Vogels zu lesen. Was ich vorfand, beschränkte sich auf natürliche, ungezwungene Wildheit. Ach, wie gern besäße ich einen Teil davon.
Stunden sind vergangen, ohne dass diese mir bewusst geworden sind. Es hätten auch Minuten oder Sekunden sein können. Mein Körper ist wie von der Zeit abgekoppelt und in einem Zustand der Trance oder auch Rausch der Gefühlslosigkeit verfangen. Alles um mich sehe, höre und rieche ich, jedoch diese sinnliche Wahrnehmung ist nicht wirklich greifbar. Der Geist ist blockiert. Langsam neigt sich der Tag dem Ende zu. Über dem ruhigen Wasser baut sich eine violette Farbe auf, die endlos erscheint, so als würde sie bis in die höchsten Spitzen des Himmels reichen wollen. Unerschöpflich weit.
Dieses traumhafte Farbenspiel habe ich im Fischland häufig erlebt. Eigentlich habe ich jedes Mal erwartet, gleich müsse sich der Himmel über mir öffnen und eine Hand mit einem großen Pinsel erscheinen, der die Farben aus der Palette mit Rot beginnend über Violett bis zu einem Schwarz hin langsam und stetig verlaufen lässt. Das kann entweder nur aus übernatürlicher oder einer begnadeten Hand eines Landschaftsmalers stammen. Für einen durchschnittlichen Menschen, wie ich es bin, übersteigt dieses Farbenspiel die Vorstellungskraft. Es verzaubert und lässt eine Wehmut aufkommen, wenn man sich losreißen will. Das ist wohl die Trance, von der ich zuvor gesprochen habe, die mich augenblicklich umfängt.
Als der Himmel seine tiefste Farbe erreicht hat, wache ich auf. Ich erhebe mich und laufe mit unsicheren Schritten vom Wasser weg und auf die Dorfstraße zu. Erst nach der steilen Kante beleuchten Laternen den Weg. Spärlich zwar, jedoch ausreichend, um den Weg zu finden. Spontan entscheide ich mich, die Nacht in Ahrenshoop zu verbringen. Wenn ich schon in der Aura der Ostsee mich wieder einmal verfangen habe, so wird mir diese auch Hinweise geben, wie ich weiterhin zu reagieren habe. Diese Natur ist gut, ehrlich, authentisch und mir immer ein guter Lehrer oder Ratgeber gewesen, zumal sie nicht von der Hektik getrieben ist. Diese Eigenschaft ist menschlich und zumeist selbst ersonnen, ohne Balance und nur durch planloses Handeln gekennzeichnet. Und plötzlich drückt der Zettel mit der Telefonnummer auch nicht mehr wie Alp auf mir. In der Nacht zieht noch einmal der wundervolle Tag an mir vorbei. Entlastet stehe ich am nächsten Morgen auf und fühle neue Kräfte in mir.
»Sie scheinen gut geschlafen zu haben«, stellt die Bedienung am Frühstückstisch fest.
»Und woran haben Sie das bemerkt?«, frage ich gut gelaunt.
»Ihr freudiges Herz spiegelt sich in Ihrem Gesicht wieder!«
»Sie haben recht«, antworte ich der jungen Dame, die mir gerade die Kaffeetasse füllt. »Ich habe eine Entscheidung getroffen. Die Atmosphäre in Ahrenshoop hat es mir ermöglicht und zugleich erleichtert.«
»Hoffentlich eine Gute? Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, sind Sie sehr zufrieden damit!«
»Ja, sehr zufrieden sogar! Es liegt an den Kindern!«
»An den Kindern?«, fragt sie nach. »Aber Sie sind doch allein, oder etwa nicht?«
»Allein. Richtig! Ich meine es im übertragenen Sinn. Ich trage Kinder oder besser Kindergedanken in mir.«
Sie schaut mich verunsichert und ungläubig an, als versuchte ich, augenblicklich ihr einen Bären aufbinden zu wollen.
»Ich will es Ihnen erklären: Ich habe mich mit meinen Eltern häufiger gestritten, weil ich ihnen unterstellt habe, sie würden ihre eigenen Kinder, meinen Bruder und mich, nicht gut genug kennen. Immer unter dem Vorwand, so sprachen sie: „Wir seien noch zu klein, um zu verstehen!“, haben sie uns Dinge vorenthalten. Doch wir beide verstanden sehr gut sogar, manchmal sicherlich mit dem Herzen. Und wenn Mama bisweilen sehr verzweifelt war, konnten wir ihr einen Rat erteilen, sogar in ganz schwierigen Situationen. Verstehen Sie, das meine ich!«
»Leider nein!«, sagt die junge Frau zu mir und schüttelt ihren Kopf dabei. »Bei uns zu Hause war das anders. Meine Eltern haben mich immer gefragt, was ich von diesem und jenem halten würde. Ich war immer mit einbezogen……«
»Glauben Sie zumindest!«, unterbreche ich sie.
»Nein, nein, das war so und ist auch heute noch so, wenn ich mit meinen Eltern spreche.«
»Dann befinden Sie sich in einer speziellen familiären Situation. Herzlichen Glückwunsch!« Und ich fahre fort: »Wie gesagt: Bei uns war das eben so, wie in den meisten anderen Familien auch. Doch heute Nacht sind mir die „mahnenden Kinder“, wie mein Bruder und ich es einmal gewesen sind, im Traum erschienen und haben mir gesagt, welche Entscheidung ich treffen soll!«
»Eine Wichtige?«, hakt sie nach.
»Ich weiß es noch nicht, aber ich denke eine Bedeutsame, ja!«
»Oh, entschuldigen Sie. Ich muss weitermachen. Die anderen Gäste werden bereits unruhig.«
»Danke! Ja, gehen Sie!«
Das ist zugleich das Startsignal für mich. Ich lasse mir zwei Croissants einpacken, trinke einen Schluck Kaffee und packe meine Sachen zusammen. Schnell entscheide ich, an den Strand zu gehen und mir den herrlich aufziehenden Tag anzusehen, bevor ich nach Hamburg zurückfahre.
*
Zwei Tage später am Airport. Der Flughafen strahlt auf mich wieder diese spezielle Atmosphäre aus, die mit der Ahrenshooper irgendwie zu vergleichen ist: Entspannung und klare Gedanken. Meine Bank mit meinem Platz füllt würdevoll den Raum aus. Gut, dass ich diese Empfindung verspüre und nicht noch etliche andere Personen auch. Wie verhielte es sich ansonsten dort? Gedränge, Geschubse und möglicherweise sogar Handgreiflichkeiten um diesen speziellen Ort. Unschuldig steht diese Bank wie eine von etlichen zum Aufenthalt den Wartenden zur Verfügung: Mehr und auch weniger nicht! Jetzt, wo mein Blick über dieses polierte, glänzende Eisen fällt, überkommt mich ein kurzer Gedanke des Vermissens, bevor ich sie endlich nach ein paar Tagen wieder entere und meine Hand schmeichelnd über sie gleiten lasse, liebkosend gleich.
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