„Da ist wirklich jemand“, flüsterte Cindy. Ihr Gesicht wurde blass vor Schreck.
Britta versuchte, so unauffällig wie möglich einen Blick auf die Person zu erhaschen, die dort saß. Nach einigen Verrenkungen kam sie zu der Erkenntnis: „Ich erkenne die Person nicht.“
„Was machen wir jetzt?“
Britta zuckte mit den Schultern.
„Sollen wir deine Kollegen anrufen?“
„Und was sagen wir denen? Da sitzt einer auf der Treppe?“, fragte Britta zurück.
„Ja eben. Wer sitzt um diese Zeit vor deiner Wohnung auf der Treppe?“
„Die lachen uns aus.“
Abwechselnd schauten sie sich an und dann wieder nach oben.
Die Gestalt regte sich nicht.
„Und jetzt?“
„Ich gehe nachgucken“, beschloss Britta. „Warte hier. Wenn ich in zwei Minuten nicht zurück bin, rufst du die Polizei!“
„Willst du das wirklich riskieren?“
„Klar. Immerhin habe ich eine Ausbildung in Selbstverteidigung.“
Cindy nickte zaghaft.
Britta ging weiter. Ihr Herz klopfte wie wild. Ihr Blick war getrübt. Sie spürte mit jedem Schritt deutlicher den Alkohol, den sie getrunken hatte und verfluchte sich dafür. Hoffentlich machte sie jetzt keine Dummheit.
Nur noch einmal im rechten Winkel um die Kurve und sie würde dem Fremden entgegentreten. Sie zögerte, atmete tief durch und wollte gerade ansetzen, den nächsten Schritt zu machen, als sie ein Geräusch von unten hörte. Das war Cindy. Sie versuchte durch die Gitterstäbe des Geländers etwas zu erkennen. Britta winkte nervös ab. Sie schaute auf die kleine Sprühflasche in ihrer Hand. Was sie hier vorhatte, war lächerlich oder Selbstmord. Der Gegner stand einige Stufen über ihr, war also höher. Wo wollte sie ihm das Pfefferspray hin sprühen? Auf den Hosenlatz?
Sie spürte, wie sich ihre Zuversicht in Nichts auflöste. Aber zurück gehen wollte sie auch nicht. Zu blamabel. Also nahm sie die letzte Kurve mit Schwung, um den Gegner zu überraschen. Doch was sie sah, überraschte nur sie selbst.
Vor ihr auf der obersten Stufe saß eine Frau. Sie war groß und mindestens doppelt so breit wie Britta. Ihre Augen blickten nicht böse, sondern traurig. Ihre Haare wirkten ungepflegt, ebenso die Kleidung.
Was sollte Britta tun? Diese Frau sah nicht gefährlich aus.
„Erkennst du mich nicht mehr?“
Es war die Stimme, die sie verriet.
♦
Udo Berg fühlte sich nicht wohl, als er sich dem ausgebrannten Autowrack näherte. Er war der erste, der nach dem Notruf an der Unfallstelle eingetroffen war. Deshalb musste er alles veranlassen, um das Auto zu sichern, damit keine Schaulustigen herumtrampeln und Spuren vernichten konnten.
Der Geruch von verbranntem Fleisch war ein eindeutiger Hinweis darauf, dass noch jemand im Auto gesessen hatte, als es in Flammen aufgegangen war. Er hatte Mühe, nicht zu würgen, so penetrant war der Gestank. Seine Augen tränten vom Rauch, seine Nase juckte ständig, als müsste er niesen.
„Wo bleiben die Kollegen?“, fragte er, als er sah, dass mehr Schaulustige als Polizeibeamte eintrafen.
„Sind auf dem Weg.“
Langsam umrundete Udo das Auto. Er besah sich alles, nur nicht das Innere. Als er am hinteren Nummernschild ankam, erschrak er. Er kannte diese Nummer. Bedeutete das, dass er auch die Person kannte, die darin verbrannt war?
Eine Vorahnung beschlich ihn.
Er gab das Autokennzeichen über Funk weiter an die Zentrale und erfuhr dort, was er befürchtet hatte. Das Auto gehörte der Rechtsmedizinerin Dr. Hilde Gesser.
Nun kam er nicht mehr umhin. Er näherte sich der Fahrerseite.
Dort lag eine schwarze, verkrümmte Gestalt. Vom Anschnallgurt waren nur verschmorte Teile zu sehen, die sich in den Brustkorb gebrannt hatten.
Der Geruch wurde so stark, dass Udo nach hinten ausweichen musste, um wieder durchatmen zu können. Es wollte ihm beim besten Willen nicht gelingen, an der verkohlten Gestalt etwas zu erkennen, was auf die Rechtsmedizinerin schließen ließ.
„Hat jemand im Innern des Wagens nachgesehen, ob es dort etwas gibt, was auf die Identität des Toten hinweist?“, fragte er den Kollegen, der ihm dabei zusah, wie er nach Luft schnappte.
„Es ist alles verbrannt“, meinte der. „Tut mir leid. Wir werden wohl abwarten müssen, was die Autopsie an dem Toten noch feststellt.“
Udo warf noch einen letzten Blick ins Cockpit des Wagens, bevor er sich vom Autowrack entfernte. Ein Gefühl der Traurigkeit beschlich ihn. Er hatte die kräftige Dame und ihre resolute Art gemocht. Hilde Gesser war wie geschaffen für den Beruf als Rechtsmedizinerin. Und es gab noch etwas, was ihm an dieser Ärztin positiv in Erinnerung war. Sie hatte gern mit Britta Ballhaus zusammengearbeitet. Frauenpower hatten die beiden das gern genannt.
Udo seufzte.
Unwillkürlich musste er an Britta denken. Er wusste, dass es für sie in Wallbrods Abteilung nicht leicht war. Sie hatte damals den Arbeitsplatz bekommen, weil sie eine Frau war. Und genau dieser Tatbestand passte Urban Wallbrod nicht. Das waren ungünstige Voraussetzungen für einen Job - vor allem, wenn sich die anderen Kollegen auf Wallbrods Seite stellten. Damit machten sie Britta das Leben schwer. Nur Hilde Gesser hatte Britta von Anfang an gemocht – ein Hoffnungsschimmer für Britta. Und der einzige Trost für Udo, weil er ihr nicht zur Seite stehen konnte.
Und nun war dieser Lichtblick erloschen.
Es wäre taktvoller, selbst mit ihr darüber zu sprechen, bevor Britta es von anderen erfuhr. Wer wusste schon, mit welchem Charme Urban Wallbrod diese Neuigkeit verbreiten würde. Er wählte Brittas Nummer. Niemand hob ab. Dann wählte er ihre Handynummer. Dort hieß es: Diese Nummer ist vorübergehend nicht zu erreichen. So ein Mist. Blieb ihm nichts anderes, als sich wieder seiner Arbeit zu widmen. Er blickte auf und sah blinkende Blaulichter in der Nacht, dazu Menschen, die vor Sensationslust am liebsten ihre Köpfe ins Innere des Wagens gesteckt hätten. Außerdem einige Kollegen der Verkehrspolizei, die diese Menschen mit Mühe und Not von der Unfallstelle fernhielten.
Es machte ihm keinen Spaß, zu jeder Tages- und Nachtzeit als erster am Einsatzort zu sein. Sich mit fremden Menschen herumzuschlagen, die gegen jedes Argument seinerseits resistent waren. Unfallorte zu sichern. Unfalltote zu sichten. Und manchmal auch Todesopfer nach einem Familiendrama in Situationen vorzufinden, in denen der Täter immer noch bei seinem Opfer stand und seine Unschuld beteuerte.
Nein. Er wollte etwas anderes tun. Er wollte sich verändern.
Schon lange lag seine Bewerbung zur Übernahme in den Kriminaldienst auf einem Tisch in der Personalabteilung im Innenministerium. Schon lange hoffte er, mit Britta zusammenarbeiten zu können. Ihr der Kollege zu sein, den sie auf ihrer Dienststelle vermisste. Ihren Charme, ihren Witz – ja ihre wunderbare Gegenwart ständig neben sich zu spüren.
Inzwischen war er fast vierzig Jahre alt, also alt genug, um sich einer neuen Herausforderung zu stellen. Aber bisher hatte sich noch niemand die Mühe gemacht, ihm zu antworten. In Momenten wie diesen hoffte er, dass das ein gutes Zeichen war. Es war zumindest keine Absage.
„Udo. Wie geht es hier weiter?“
Die Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Sofort konzentrierte er sich auf die Unfallstelle und gab seine Anweisungen.
♦
Stinkende, schwarze Rauchschwaden stiegen in den grauen Morgenhimmel. Gerhard Manner näherte sich neugierig der Unfallstelle. Der Wagen war ausgebrannt. Und so ekelhaft wie es roch, saß noch jemand darin.
Sein Kollege Udo Berg hatte alle Hände voll zu tun, um die Arbeiten an der Unfallstelle zu koordinieren. Das tat er wie immer tadellos. Gerhard spürte wieder Groll in sich aufsteigen. Udo war ihm ein Dorn im Auge. Alles machte er richtig. Da konnte sich Gerhard ausrechnen, wer bei der nächsten Beförderung an die Reihe kam.
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