„Zunächst einmal kann ich mit Sicherheit sagen, dass die Tatwaffe nicht in Cindy Grafs Wohnung aufzufinden war. Den Messerbestand ihrer Küche haben wir überprüft. Dort fehlt nichts. Nach dem Abdruck zu urteilen, den die Rechtsmedizinerin vom Stichkanal gemacht hat, ist es kein Küchenmesser, sondern ein Messer mit zweischneidiger Klinge – ein sogenannter Dolch. Die Klinge war lang und breit und nicht besonders scharf, was auf eine Vernachlässigung der Pflege des Messers hindeuten könnte.“
„Kommt man einfach so an einen Dolch ran?“, fragte Britta.
„Ja. Leider. Im Internet geht das noch einfacher, man muss sich dafür noch nicht einmal eintragen.“
„Jetzt hast du uns groß und breit erklärt, was du nicht gefunden hast“, murrte Wallbrod. „Nun wüsste ich gern, was du gefunden hast.“
„Gern! Kommen wir auf die Spuren zu sprechen, die wir gefunden haben.“ Bossi lachte. „In Cindy Grafs Wohnung gab es Fingerabdrücke von ihr selbst und von Thomas Gerlach, was keine Überraschung ist.“
„Hast du den Ersatzschlüssel an Cindys Schlüsselbrett neben der Wohnungstür untersucht?“ fragte Britta.
„Ja, haben wir.“ Bossi zögerte. „Daran fanden wir tatsächlich etwas Besonderes.“
Britta hielt die Spannung fast nicht mehr aus. Sie hielt die Luft an. Was würde jetzt kommen?
„Thomas Gerlachs Abdrücke sind klar und deutlich auf dem Wohnungsschlüssel.“
Am liebsten hätte sie einen Freudentanz aufgeführt.
„Damit ist Cindy Graf aus dem Schneider“, sagte sie stattdessen in aller Ruhe.
„Immer sachte mit den jungen Pferden“, bremste Wallbrod den Eifer der Kommissarin, wofür Britta ihn am liebsten erwürgt hätte. „Jetzt stehen wir vor einer anderen Frage: Warum ist Thomas Gerlach in die Wohnung zurückgekehrt? War dieses Arrangement vielleicht sogar verabredet?“
Britta traute ihren Ohren nicht. Was wollte ihr Chef damit erreichen? Mit ihrer Beherrschung war es dahin, als sie zurückfragte: „Ist es nicht auch in Ihrem Sinn, den richtigen Mörder zu fassen?“
„Was soll diese Frage?“
„Ganz einfach: Cindy hat Thomas nicht getötet. Wie hätte sie das anstellen sollen? Sie war um acht Uhr im Basilisk. Dafür gibt es etliche Zeugen. Mich inbegriffen. Stattdessen sollten wir unsere Suche lieber auf interessantere Verdächtige konzentrieren.“
„Cindy Graf ist die interessanteste Verdächtige, weil sie den Toten schon gekannt hat, als sein Vater ermordet worden ist“, hielt Wallbrod dagegen. „Hinzu kommt ihre Lüge mit dem Arbeitsvertrag.“
„Das ist keine Lüge“, beharrte Britta . „Vielleicht hat der Mord gar nichts mit Ernst Gerlach zu tun, sondern nur damit, dass Thomas Gerlach Anwalt war. Er könnte einen Prozess verloren haben, was ihm der Mandant nicht verziehen hat.“
„Was glaubt gnädige Frau, was wir hier tun?“, zischte Wallbrod böse. „Sämtliche Mandanten werden überprüft.“
„Dann sollten wir den Vater von Andrea Gerlachs Kind nicht vergessen“, fügte Britta verbissen an. „Der Mann könnte auch von Interesse sein.“
Wallbrods Gesicht wurde immer roter.
Bossi grinste Britta verschwörerisch zu.
„Was soll das heißen?“, fragte Böker überrascht. „Warum ist der Vater von Andrea Gerlachs Kind von Interesse? Thomas Gerlach ist erst seit zwei Tagen tot.“
„Ich denke, Sie waren zusammen mit Kollegin Ballhaus bei der Autopsie“, schoss Wallbrods helle Stimme durch den Raum.
„Ja.“ Böker wirkte plötzlich kleinlaut.
„Dort wurde das Ergebnis bekannt gegeben.“
Britta grinste in sich hinein. Jetzt wurde es für den überheblichen Kollegen peinlich. Und das Beste daran war, er hatte sich selbst in den Schlamassel geritten.
„Also müssten Sie wissen, warum Thomas Gerlach nicht der Vater des Kindes sein kann. De facto gibt es noch einen Unbekannten, der für uns von besonderem Interesse ist.“
Böker ließ sich vor seinem Computer nieder und rief den Bericht der Gerichtsmedizinerin auf.
„Wir kommen nicht umhin: Wir werden mit der Witwe sprechen müssen“, gab Wallbrod endlich zu und wandte sich an Britta mit der Anweisung: „Das machen Sie!“
„Warum ich? Sie wird mich hinauswerfen, wenn ich mit der Frage komme.“
„Warum Sie nicht?“, hakte Wallbrod böse nach. „Sie kennen Andrea Gerlach schon lange. Da kommen alte Erinnerungen hoch.“
Die Kollegen murmelten, bis Bossi sich zu Wort meldete: „Urban. Du hast den Charme einer Klobürste. Warum gehst du mit diesem sensiblen Thema nicht selbst zu der geplagten Witwe? Dir nimmt sie es nicht übel, weil sie von dir nichts anderes erwartet.“
Alle starrten gebannt auf die beiden Männer. Was würde jetzt passieren? Ließ sich Wallbrod eine solche Beleidigung gefallen?
„Wenn ich mich richtig erinnere, gehörst du zum Team der Spurensicherung, Bossi. Warum mischst du dich hier ein?“, fragte Wallbrod stattdessen nur, womit er die Erwartungen seiner Mitarbeiter keineswegs erfüllte.
„Ich helfe immer gerne, wo ich kann.“
Wallbrod schaute in Bossis rundes Gesicht und sah darin nur Herzensgüte und Gelassenheit. Als sei dadurch seine Aggression verflogen, fragte er stattdessen: „Wie sieht es mit Spuren von Markus Gronski aus? Immerhin ist er wieder draußen. Über ihn als Täter haben wir noch gar nicht nachgedacht.“
„Ich habe durchaus an Markus Gronski gedacht“, hielt Bossi dagegen. „Aber von ihm haben wir weder DNA-Spuren noch Fingerabdrücke gefunden. Dafür haben wir welche gefunden, die wir niemandem zuordnen konnten. Auch im AFIS (Automatisiertes Fingerabdruck-Identifizierungs-System) waren sie nicht gespeichert, weshalb ein ehemaliger Zellenkumpel von Markus Gronski auch nicht in Frage kommt. Die gleichen Abdrücke fanden wir in Thomas Gerlachs Zweitwohnung – und zwar überall. Hauptsächlich im Schrankinneren. Derjenige, zu dem diese Fingerabdrücke gehören, zeigte nicht den geringsten Versuch, Spuren zu vermeiden.“
„Das ist unser Täter“, stellte Wallbrod sofort fest. „Wir müssen herausfinden, wer Andrea Gerlach geschwängert hat. Vielleicht haben wir damit den Fall gelöst.“
♦
Dr. Hilde Gesser saß an ihrem Schreibtisch und versuchte sich auf den Abschlussbericht ihrer Obduktion zu konzentrieren. Aber das wollte ihr nicht gelingen. Der letzte Anruf machte ihr Sorgen.
Seit wann rief Kriminaloberkommissar Norbert Böker bei ihr an und stellte Fragen, die bei seinem letzten Besuch im Sektionssaal längst beantwortet worden sind?
Hinzu kam die fremde Nummer, die er mit seinem Handy erklärt hatte, weil in seinem Büro alle Telefone besetzt seien.
War es richtig gewesen, ihm die gewünschte Auskunft zu geben? Und was veranlasste Böker dazu, Fragen über den alten Fall Ernst Gerlach zu stellen?
Bisher war Hilde Gesser der junge Kommissar nicht gerade als übereifrig bekannt. Und schon gar nicht als Ermittler, der in der Lage gewesen wäre, Zusammenhänge zu erkennen. Sie spürte eine innere Unruhe, die sie nicht loslassen wollte. Sie warf einen Blick auf den Bildschirm. Der Obduktionsbericht bestand gerade mal aus der Überschrift. Und den musste sie in wenigen Stunden abgeben. Das konnte ja heiter werden. Schnell begann sie mit ihrem Diktat.
Schon wieder klingelte das Telefon.
Entnervt hob sie ab. Dieses Mal war Britta Ballhaus am Apparat.
„Weiß bei euch die Rechte nicht, was die Linke tut?“, fragte Dr. Gesser unfreundlich.
„Meine Güte. Wie bist du denn drauf?“, kam es erschrocken zurück. Brittas Stimme klang gehetzt.
„Tut mir leid. Ich wundere mich nur, dass mich heute so viele von deiner Abteilung anrufen.“
Britta grummelte etwas, worauf Hilde Gesser drängte: „Also, Kindchen. Was hast du auf dem Herzen?“
„Ich habe gehört, Ernst Gerlach sei damals ertrunken“, begann Britta zu sprechen, wobei sich ihre Stimme merkwürdig anhörte.
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