Frustriert steuerte er die Brauerstraße in Saarbrücken-St. Johann an, in der er wohnte. Die Wohngegend war das einzige, was er sich leisten konnte. Dort war es billig, weil niemand freiwillig in diese Ecke zog. Ein Drogenhilfezentrum bestimmte die Straße. Ursprünglich als humanitäres Hilfsprojekt geplant – heute durch die Russen-Mafia in einem kriminellen Sumpf geendet, der regelmäßig Polizei, Krankenwagen oder Leichenwagen auf den Plan rief. Nein, in so einer Gegend wohnte niemand gern. Außer Pietro Pardi – aber nur, weil er von der Anonymität profitierte. Er parkte seine Rostlaube vor der Haustür, die wie immer offenstand. Das war sein größtes Ärgernis, denn die Bewohner hatten im Gegensatz zu ihm nichts zu verlieren. Ihnen war es egal, wer sich in den Hausfluren herumtrieb. Meistens waren es Fixer, die kaum mitbekamen, dass sie noch lebten. Aber Pardi ahnte, dass auch die Russen gelegentlich hier herumschlichen. Das behagte ihm nicht. Er hatte schon den einen oder anderen Artikel über sie geschrieben und konnte sich vorstellen, dass seine Sicht der Dinge bei der Russen-Mafia nicht gerade auf Gegenliebe stieß. Blieb Pardi nur zu hoffen, dass sie keine deutschen Texte lesen konnten.
Er lief hinauf in den vierten Stock. Den Fahrstuhl benutzte er nicht, weil der nicht vertrauenerweckend aussah. Lieber ging Pardi zu Fuß, die einzige körperliche Ertüchtigung am Tag, die er seinem Körper zumuten wollte. Ansonsten zog er es vor, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Oben angekommen schnaufte er in den letzten Zügen. Rasch sperrte er seine Wohnungstür auf und tauchte in sein Reich ein. Vierzig Quadratmeter, die Küche, Wohnzimmer, Bad, Toilette und Schlafzimmer zusammenfassten. Wohnklo könnte er auch dazu sagen. Aber er wollte sich nicht beschweren. Dafür hatte er einen Internetanschluss. Und einen Rechner. Den schaltete er an.
Er hatte den Namen dieses Mädchen noch im Kopf. Dafür brauchte er seinen Notizblock nicht. Nur leider standen dort auch alle anderen Erkenntnisse drauf, die er in den letzten Tagen gewonnen hatte. Hoffentlich konnte dieser merkwürdige Mann nichts damit anfangen. Als der Computer startklar war und der Cursor blinkte, gab Pietro Pardi den Namen Daniela Bartholt ein.
Und was sah er? Er hatte sich nicht getäuscht.
Pardi überkam ein erhebendes Gefühl des Triumphs. Dieses Mädchen hing mit dem alten Fall zusammen.
Inge Sander fühlte sich innerlich zerrissen. Die Meldung in den Nachrichten hatte alles wieder aufleben lassen, als sei es erst gestern passiert. Auf dem Fernsehbildschirm sahen Britta Ballhaus und Cindy Graf aus, als wären die zwanzig Jahre spurlos an ihnen vorbeigegangen. Immer noch schlank und hübsch.
Missmutig schaute Inge an sich selbst herunter. Sie war dick geworden. Dabei war sie schon damals nicht so schlank wie ihre beiden Freundinnen.
Ach ja. Ihre beiden Freundinnen . Das klang gut.
Britta und Cindy waren die beliebtesten und hübschesten Mädchen der ganzen Schule gewesen. Jeder wollte mit ihnen befreundet sein. Inge war da keine Ausnahme. Immerzu hatte sie die beiden bewundert, über ihre Witze gelacht und um deren Aufmerksamkeit gebuhlt. Aber wirklich erreicht hatte Inge nichts. Das einzige, was sie jemals fertiggebracht hatte war, dass sie ihnen ungefragt an den See gefolgt war. Erst am Ufer, wo sich Britta und Cindy zum Baden fertiggemacht hatten, war sie dazu gestoßen. Zu Inges Überraschung hatten sie sie nicht fortgeschickt. Im Gegenteil. Sie baten sie, mit ihnen ins Wasser zu gehen.
Das war der schönste Moment in Inges Leben gewesen. Ein unbeschreibliches Gefühl der Freude.
Sie hatte sich mit Britta und Cindy vereint gefühlt. Hinzu kam, dass es ihr verboten war zu baden. Hatte das nicht gerade den besonderen Reiz ausgemacht? Von der Mutter zum Glauben der Zeugen Jehovas gezwungen, hatte ihr Leben nur aus Enthaltsamkeit bestanden, weil alles, was Freude bereitete, als heidnisch verurteilt wurde.
Der Lebenswandel ihrer beiden Freundinnen galt bei ihrer Mutter als Zuwiderhandlung ethischer Richtlinien, was in deren Augen einer Verdammung gleichkam. Dem hatte sich Inge widersetzt und das erfüllte sie mit Stolz.
Bis zu diesem verhängnisvollen Tag …
Inge puhlte sich mühsam aus dem gemütlichen Sofa und stellte sich vor den Spiegel. Sie erschrak bei ihrem Anblick. Die Haare waren dünn und farblos, ihr Gesicht aufgedunsen, ihre Figur aus den Fugen geraten. Aber was erwartete sie, wenn sie schon seit Jahren Antidepressiva einnahm?
Bei der Erinnerung an die Bilder von Britta und Cindy, die das Fernsehen gerade gesendet hatte, spürte sie schon wieder dieselbe starke Sehnsucht nach den beiden. An ihrer Bewunderung hatte sich nichts geändert. Vielleicht war sie sogar noch intensiver geworden. Seufzend kehrte sie zum Sofa zurück und ließ ihren fülligen Körper hineinplumpsen.
Auch ihr Bruder Dietmar war den beiden damals verfallen. Niemals hätte er auch nur ein Wort darüber verloren. Aber Inge hatte es deutlich erkannt. Sie glaubte sogar, dass er sich verliebt hatte. Und zwar in Cindy. Immer, wenn sie in seine Nähe kam, wurde sein Gesicht rot. Dabei war er selbst ein hübscher Junge gewesen. Damals. Aber auch ihn hatten die Depressionen verändert. Wo er heute steckte, wusste Inge nicht. Sie hatte den Kontakt zu ihm verloren, als er das erste Mal eingewiesen worden war.
Sie hörte sich den Bericht in den Nachrichten an. Es handelte sich um einen ermordeten Mann namens Thomas Gerlach.
Inge erschrak.
Jetzt verstand sie auch, warum der Fall so wichtig war, dass er es bis in die Fernsehnachrichten schaffte. Thomas Gerlach war der Sohn dieses elenden Schufts – Ernst Gerlach.
Inge schüttelte sich.
Sollte Thomas genauso ein mieses Schwein wie sein Vater gewesen sein?
Sie konnte es nicht glauben. Auf den Bildern, die von ihm ausgestrahlt wurden, sah er blendend aus. Aber so hatte auch der Vater ausgesehen. Wie ein Gewinner.
Nach diesen Meldungen spürte Inge, dass Britta und Cindy in Schwierigkeiten steckten. Das beunruhigte sie. Was sollte sie tun? Zu ihnen fahren und ihre Hilfe anbieten? Würden sie sie heute annehmen? Damals – am Burbacher Weiher - war ihr nichts anderes geblieben, als sich heimlich heranzuschleichen, sonst...
Die Erinnerung daran ließ Inge zögern. Doch in der Not ist jeder froh, wenn Freunde zu ihm stehen. Bestimmt auch Britta und Cindy.
Freunde!
Inge fühlte sich direkt ein bisschen größer, schöner, bedeutender.
Ihre Freundinnen Britta Ballhaus und Cindy Graf.
Damals hatte ihr das niemand geglaubt.
Außer ihrer Mutter.
Und ihr dämlicher Bruder Dietmar.
Ihm gab sie die Schuld dafür, dass sie so plötzlich wegziehen mussten. Er hatte seiner Mutter verraten, dass Inge gelegentlich mit Britta und Cindy am Burbacher nackt baden gegangen war. Als streng Gläubige, die täglich von Haustür zu Haustür ging und „Erwachet“ predigte, war es für ihre Mutter undenkbar gewesen, eine solche Schande zu dulden. Sie mussten sofort ihre Koffer packen und zu Mutters Schwester in die Pfalz ziehen. Und dort wurde das Leben erst richtig unerträglich. Tägliches Bibelstudium, jeden Sonntag stundenlange Vorträge über die Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi und das Paradies auf Erden, regelmäßiges Klinkenputzen an Türen von Menschen, die kein Interesse an den Zeugen Jehovas hatten.
Für ihre Mutter stand der Glaube über allem. Jeder Gedanke, der sich von Gott abwandte, galt für sie als Sünde. Und Dietmars Gedanken an Cindy hatte sie als gottlos verurteilt. Von ihm hatte sie verlangt, sich für seinen Glauben zu entscheiden, seinen Geist durch Gebete von den sündigen Gedanken zu befreien. Um seine Bekehrung zu retten, hatte sie ihn oftmals über Stunden in sein Zimmer eingesperrt, da der Glaube der Zeugen Jehovas verbot, in einer Gemeinschaft mit unterschiedlichen Geschlechtern zu beten.
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