Dietmar war daran zerbrochen. Er wurde zwangseingewiesen.
Inge hatte sich mit Tabletten helfen können. Und so sah sie heute aus. Aufgedunsen, leichenblass und hässlich.
Sie beschloss, ein paar Sachen zu packen und ins Saarland zu fahren. Was hatte sie schon zu verlieren?
Sie war Hartz IV-Empfängerin, hatte niemanden, der auf sie wartete und ihre Wohnung war so düster, dass es nur besser für sie werden konnte. Sie spürte einen inneren Energieschub, seit sie ihren Entschluss gefasst hatte. Noch heute würde sie losfahren
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Britta gefiel sich in ihrem Outfit. Eine enge Jeans, dazu ein paillettenbesetztes Top auf Taille geschnitten und ihre Haare zu einem raffinierten Dutt hochgesteckt. Sie hatte abgenommen, was sie dem Stress verdankte. Aber die Ursache sollte ihr egal sein. Hauptsache ein paar Pfunde weniger und wieder elegant durch Kneipen ziehen.
So betrat sie das Gasthaus Basilisk.
Cindys Anblick ließ ihren Anflug von Narzissmus in Sekundenschnelle verflüchtigen. Ihre Freundin hatte die roten Haare auf eine Weise frisiert, dass kein Mensch daran vorbeischauen konnte. In alle Richtungen standen sie ab. Dazu rot geschminkte Lippen und schwarz untermalte Augen, wodurch sie frivol und frech gleichzeitig aussah. Damit konnte sie die Männer in den Bann ziehen und gleichzeitig in die Flucht schlagen.
„Na Süße. Wie wär’s mit uns beiden?“ Mit einem Schnurren stellte sich Britta neben ihre Freundin.
„Hey Puppe. Du siehst aus, als wärst du bereit zu sündigen“, stellte Cindy fest und ließ ihr kehliges Lachen hören.
„Und du siehst heute aus, als stünde dir ein Bewerbungsgespräch in einem Kloster bevor.“
Sie kicherten so laut, dass alle Gäste aufblickten.
Gerd Bode kam aus der Küche. Wie immer zog er eine Grimasse wie sieben Tage Regenwetter.
„Ihr beide kommt mir gerade recht“, brummte er zur Begrüßung.
„Ach Gerd. Welche Laus ist dir heute über die Leber gelaufen?“, fragte Cindy und tätschelte den Arm des Wirts.
Sofort veränderte sich Gerds Miene. Seine Augen bekamen ein Glänzen.
„Ich mache mir Sorgen um euch und habe auch allen Grund dazu“, erklärte er in milderem Tonfall.
„Warum?“ „Was ist passiert?“
Er zog etwas aus seiner Hemdtasche, das wie ein zerknitterter Notizblock aussah.
„Was ist das?“
„Da staunt ihr, was?“, kam es mürrisch von Bode zurück. „Das hat mir der Obelisk gegeben.“
„Der Obelisk?“ Cindy verstand gar nichts.
Britta hatte nur Augen für diesen Block.
„Der Mann, der heute Mittag an diesem Tisch saß, ist aufgestanden und gegangen, kaum dass ihr beide euch in die Küche verzogen habt. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass er euch belauscht. Und wie es aussieht hat der Obelisk das ebenfalls beobachtet. Als er raus ging, hat der Obelisk bereits draußen auf ihn gewartet. Kurze Zeit später kam er zurück und gab mir dessen Block.“
Britta fluchte, als sie die Notizen sah: „Das sieht nach einem Reporter aus. Und ich habe auch schon einen Verdacht, wer.“
„Wer?“
„Pietro Pardi.“
„Wie kommst du gerade auf ihn?“
Britta las vor: „CG und AG zicken rum. Reden von früher. Namen von AG nachforschen. Was hat AG vor zwanzig Jahren gemacht?“
Cindy wurde blass im Gesicht, als sie sagte: „AG steht wohl für Andrea Gerlach.“
Britta schaute auf und fragte: „Was habt ihr euch alles an den Kopf geworfen?“
„Ich wollte nur, dass diese blöde Kuh den Arbeitsvertrag rausrückt, damit die Polizei sieht, dass ich recht habe.“
„Nachdem, was Pardi hier schreibt, muss mehr gefallen sein als dieser Arbeitsvertrag.“
Cindy druckste eine Weile herum, bis sie zugab: „Andrea hat mir vorgeworfen, dass ich schon seit zwanzig Jahren hinter Thomas her sei und dass ich ihn abgemurkst hätte, weil er sich für Andrea entschieden hat.“
„Und was hast du dazu gesagt?“
„Dass Thomas ihr nicht nur Hörner aufgesetzt hat, sondern ein ganzes Geweih. Mindestens schon ein Sechzehnender.“
Britta musste gegen ihren Willen lachen. Aber beruhigen konnte sie das nicht. „Andrea hat doch Recht mit ihren Vorwürfen. Ich erinnere mich, dass du jedes Mal ein großes Geheimnis daraus gemacht hast, wenn du dir wieder neue Hoffnungen bei Thomas ausgerechnet hast.“
Cindy druckste herum, bis sie zugab: „Er sah doch schon damals verdammt geil aus.“
„Aber du warst erst fünfzehn.“
„Deshalb wollte ich ja nicht, dass du erfährst, was ich im Schilde führe. Du warst damals schon so korrekt.“
„Zum Glück hatte Thomas mehr Verstand als sein Vater.“
„Das kann man nennen, wie man will. Jedenfalls hat er mich total übergangen, was mir wehtat. Andrea war damals schon volljährig. Deshalb hatte sie mehr Chancen als ich. Aber nur deshalb!“
„Sei froh, dass es so gekommen ist“, tröstete Britta. „Sonst würdest du heute mit einem Sechzehnender herumlaufen.“
Darauf stießen die beiden Frauen an.
„Hier steht Daniela Bartholt“, rief Britta plötzlich aus, als ihr Blick wieder auf den Notizblock fiel. „Ist das nicht der Name, den dieser Mann an der Theke zu dir gesagt hat?“
„Doch!“ Cindy stutzte.
„Pardi hat uns verdammt gut verstehen können – trotz Lärm, der hier immer herrscht. So eine Kacke. Wo hat er gesessen? Warum habe ich ihn nicht gesehen?“
„Da hat so ein Typ mit Schirmmütze und dunkler Brille gesessen“, überlegte Cindy laut. „Ich dachte noch, der ist für diese Kappe viel zu alt.“
„Also hat er sich unter dem Schirm seiner Mütze versteckt und deshalb habe ich ihn nicht erkannt. Hoffentlich hat er den Namen wieder vergessen, bis er zuhause ankommt.“
„Warum?“
„Mir ist wieder eingefallen, wer das ist.“
„Erzähl schon!“
„Daniela Bartholt war damals in unserer Schulklasse und ist ganz plötzlich verschwunden. Wir haben nie wieder etwas von ihr gehört.“
Eine Weile schauten sich die beiden an, bis Cindy die Augen aufriss und rief: „Jetzt fällt es mir wieder ein. Waren damals nicht zwei Klassenkameradinnen zur gleichen Zeit verschwunden?“
„Wer noch?“
„Andrea Gerlachs Schwester. Ich weiß ihren Namen nicht mehr. Sie war damals auch in unserer Klasse“, antwortete Cindy. „Mist, wie hieß sie noch?“
Eine Weile überlegten beide, bis Britta rief: „Jetzt weiß ich, wen du meinst: Angelika Diemke.“
„Stimmt!“ Cindys Augen wurden groß, als sie anfügte: „Die beiden sind im gleichen Sommer verschwunden, als Ernst Gerlach getötet wurde.“
„Davor oder danach?“
„Davor. Wir hatten alle Angst, alleine zu bleiben“, antworte Cindy. „Nur du nicht.“
„Was dabei herausgekommen ist, wissen wir.“
„Psss!“, zischte Cindy, als sie sah, wie Bodes Augen immer größer wurden.
„Hast du inzwischen was von Inge gehört?“
„Nein.“
„Das wundert mich“, gab Britta zu. „Damals hat sie sich wie eine Klette an uns dran gehängt. Hätte doch sein können, dass sie es wieder tut.“
„Glaub nicht, dass sie kommt, wenn wir in Schwierigkeiten sind. Damals kam sie auch nur, um von unserer Freundschaft zu profitieren.“
„Rede nicht so schlecht über sie. Durch ihre streng gläubige Mutter hatte sie es nicht einfach. Und ihr Bruder Dietmar auch nicht.“
„Stimmt. Der schöne Dietmar.“ Cindy griente.
Britta schaute auf die Uhr und murmelte: „Trinken wir noch ein Bier, damit unsere Kehlen nicht austrocknen, bis das Taxi kommt. Ich will gut gelaunt die Stadt erobern.“
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Hilde Gesser duschte sich nach Feierabend, um den Geruch von Formalin loszuwerden. Doch so einfach war das nicht. Sogar ihre Spezialseife ließ sie allmählich im Stich. Einerseits übte sie ihren Beruf mit Leidenschaft aus, andererseits musste sie einsehen, dass es noch ein anderes Leben gab, als das in den gekachelten Räumen der Gerichtsmedizin. Doch mit diesem Geruch an ihrem Körper brauchte sie keine Pläne für ein Privatleben zu schmieden. So wollte niemand mit ihr zu tun haben.
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