Hilde Gesser rieb sich das Ohr. Vielleicht hatte sie einen Hörschaden. „Ja und?“
„Stimmt das?“
„Komisch“, bemerkte Hilde Gesser. „Norbert Böker wollte dasselbe wissen.“
„Hat der nicht nach der Vasektomie an Thomas Gerlach gefragt?“
„Nein. Er wollte wissen, ob Ernst Gerlach damals ertrunken oder an einem Schlag auf den Kopf gestorben ist.“
Brittas stieß die Luft so laut aus, dass die Rechtsmedizinerin fragte: „Was ist los mit dir?“
„Ach nichts. Es ist nur so, dass Urban Wallbrod und Dr. Rousselange so laut im Hintergrund diskutieren.“
„Ach so. Also, deine Frage kann ich leicht beantworten, ich habe die Akte von Ernst Gerlach nämlich vor mir liegen. Ernst Gerlach wurde ertränkt. Wir fanden an seinem Körper Spuren von großer Gewalteinwirkung, wie zum Beispiel gebrochene Rippen, was darauf hindeutet, dass er gewaltsam unter Wasser gedrückt wurde. Außerdem hatte er eine schwere Verletzung am Hinterkopf. Bei der Untersuchung des Burbacher Weihers fand man in Ufernähe große Steine, was wir als Erklärung für diese Kopfwunde genommen haben. Er wurde unter Wasser gedrückt und stieß sich dabei den Kopf. Das erklärt auch, warum so wenig Kampfspuren an der Leiche waren. Ernst Gerlach konnte sich nicht mehr wehren, er wies eine schwere Gehirnblutung auf. Demnach war er bewusstlos, als er ertränkt wurde.“
„Und warum wurde er mit solch einer rohen Gewalt unter Wasser gedrückt?“, fragte Britta. „Wenn er sich nicht mehr wehren konnte.“
„Dazu gibt es nur Vermutungen. Damals hieß es, der Täter wollte einfach nur sichergehen, weshalb er so viel Gewalt angewendet hatte. Heute nennt man das Overkill.“
„Danke Hilde. Du hast mir damit weitergeholfen.“
„Brauchst du eine Kopie des Berichts?“
„Das wäre super. Muss aber nicht jeder mitbekommen, dass ich in dem alten Fall ermittle“, meinte Britta zögerlich.
„Kein Problem. Ich lege die Akte ins Auto und bringe sie dir vorbei, sobald ich in Saarbrücken bin.“
♦
Pietro Pardi hatte Mühe, am Kneipentisch nicht einzuschlafen. Der Schachzug sollte wohl nicht der Beste gewesen sein, Cindy Graf ins Basilisk zu folgen. Sein Stück vom Lyoner hatte vermutlich schon Stunden im Wasser gelegen, weshalb es wässrig war, der Kartoffelsalat schmeckte ranzig und die Gespräche gaben nichts her. Er beschloss, sein Bier auszutrinken und zu verschwinden.
Doch gerade als er aufstehen wollte, stürmte Britta Ballhaus mit hochrotem Gesicht herein. Pardi schaute auf die Uhr: kurz nach Zwölf. Jetzt könnte es doch noch interessant werden. Sofort überlegte er es sich anders, setzte die dunkle Brille wieder auf, zog die Schirmmütze tiefer ins Gesicht und bestellte sich noch ein Bier.
„Wie konntest du so dämlich sein und zu Thomas’ Witwe fahren?“, fragte Britta ohne jede Begrüßung.
„Mach mal langsam“, bremste Cindy. „Ich werde doch wohl noch tun und lassen dürfen, was ich will.“
„Solange die Sache mit diesem Mord nicht ausgestanden ist, darfst du das eben nicht. Durch dich habe ich heute wieder mal die Hölle ausgestanden. Ahnungslos bin ich ins Büro und wer empfängt mich?“
„Urban Wallbrod“, antwortete Cindy. Ihr Gesichtsausdruck sah plötzlich zerknirscht aus. „Das tut mir echt leid. Soweit habe ich nicht gedacht.“ Sie nahm Britta in die Arme und drückte sie an sich. „Ich handele oft ohne zu überlegen.“
Sofort wurde Brittas Tonfall versöhnlicher. „Ich wollte auch nicht so fies zu dir sein. Es ist nur so, dass ich es zurzeit nicht leicht bei der Arbeit habe.“
„Zurzeit?“, hakte Cindy nach. „Willst du mir damit sagen, dass Urban Wallbrod eigentlich ein ganz liebreizender Mensch ist?“
Brittas Antwort war eine Grimasse.
Gemeinsam setzten sie sich auf zwei Barhocker an der Theke.
Was war Pardi doch für ein Glückspilz. Sie saßen ganz in seiner Nähe. Er konnte jedes Wort verstehen. Er schaute tief in sein Glas in der Hoffnung, dass Britta ihn nicht erkannte. Trotz seiner Kopfbedeckung fühlte er sich auffallend – oder vielleicht gerade deswegen. Er war der Einzige hier mit so einem lästigen Ding auf dem Kopf. Und die Sonnenbrille war auch nicht gerade die geschickteste Wahl. Aber jetzt musste es funktionieren.
„Ich habe die Rechtsmedizinerin angerufen“, berichtete Britta gerade. „Sie hat bestätigt, dass der alte Gerlach ertrunken ist.“
Nanu. Pardi staunte. Was war das? Die beiden Frauen interessierten sich für den Mord, der vor zwanzig Jahren passiert war. Also hatte ihn sein Instinkt nicht betrogen. Diese Frauen hatten schon seit zwanzig Jahren etwas zu verbergen.
Er trank an seinem Bier, damit seine Lauschaktion nicht auffallen sollte.
„Sie macht eine Kopie des Berichts für uns. Das darf aber keiner wissen. Sie legt ihn ins Auto und bringt ihn mir vorbei, sobald sie wieder in Saarbrücken ist.“
Das klang interessant. Die Rechtsmedizinerin in geheimer Verschwörung mit der ermittelnden Beamtin. Pardi rieb sich gedanklich die Hände. Die Storys trudelten nur so bei ihm herein. Er würde wieder ganz nach oben kommen mit seinen Berichten.
Pardi spürte es in den Fingerspitzen.
Ein kleiner Blick zur Seite ließ ihm jedoch das Blut in den Adern gefrieren. Da stand ein Mann in der Ecke und starrte ihn an. Pardi erwiderte seinen Blick, doch diese finstere Gestalt zeigte nicht das geringste Anzeichen von Unsicherheit oder Flackern in seinen Augen. Pardi war derjenige, der wegschaute. Dabei suchte er nach den beiden Frauen, die immer noch unbedarft an der Theke saßen und plauderten. So ein Mist, jetzt hatte er nicht alles belauschen können, worüber sie sprachen.
„… Onkel Günni hat er sich genannt“, sprach gerade Cindy.
Wovon sprachen sie jetzt schon wieder?
„Kannst du dich an ihn erinnern?“
Britta brummelte vor sich hin, dann sagte sie: „Nein. Beim besten Willen nicht.“
„Sagt dir der Name Daniela Bartholt was?“, fragte Cindy weiter.
Sofort zückte Pardi seinen Notizblock und schrieb sich den Namen auf. Irgendwo in seinen Hirnwindungen klingelte es bei dem Namen. Aber er kam nicht drauf, wer diese Frau war.
Plötzlich funkte die Stimme des Wirts dazwischen. Böse brüllte er: „Habt ihr vergessen, wo ihr seid?“
„Was ist los, Gerd?“, fragte Cindy erschrocken.
„Ihr redet hier über Polizeifakten und über Namen in aller Öffentlichkeit. Dabei habe ich seit diesem Mord ständig Presseleute in meinem Laden. Nur Fremde. Schaut euch mal um. Ihr solltet lieber nach hinten verschwinden, wenn ihr über so heikle Themen redet. Oder wollt ihr morgen schon wieder in der Zeitung stehen?“
Pardi könnte diesen Wirt erschlagen. Gerade war es so interessant geworden. Nun konnte er nur noch beobachten, wie Britta und Cindy in den hinteren Raum verschwanden. Frustriert bezahlte er seine Rechnung, steckte den Block in seine Manteltasche und verließ das Lokal. Vor der Tür wurde er von heftigem Regen überrascht. Er zog seine Schirmmütze tiefer ins Gesicht.
Er spürte ein Rempeln. Erschrocken schaute er sich um und sah den seltsamen Gast aus dem Basilisk neben der Tür. Im Tageslicht erschien ihm dieser Mann noch unheimlicher. Regungslos stand er da und starrte ihn nur an.
„Alles klar?“, rief ihm Pardi entgegen. Keine Antwort.
Verunsichert eilte er zu seinem Wagen, stieg ein und fuhr davon. Im Rückspiegel konnte er den Mann noch lange sehen. Wie eine Statue stand er da und schaute Pardi nach. Erst als er um die nächste Kurve fuhr, verschwand er aus seinem Sichtfeld. Während der Fahrt tastete er seine Manteltasche ab. Der Notizblock war verschwunden. Er hatte es geahnt. Dieser Mann hatte ihn nicht zufällig angerempelt. Er hatte ihm seinen Notizblock gestohlen. Pardi fühlte sich verunsichert. Immer wieder schaute er in den Rückspiegel. Aber was wollte er dort sehen? Der ominöse Mann hatte vor dem Basilisk gestanden, als er weggefahren war. Er konnte ihm nicht gefolgt sein.
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