Mein vorläufiges Resümee lautet: Diese Frau hat mich von Beginn an so fasziniert, dass mir angst und bange wurde.
Einen Teil dieser Angst habe ich überwunden, bin nun in der Lage, meine Gefühle ihr gegenüber zu akzeptieren. Es ist ein ungeheuer befreiendes Erlebnis, wenn gestaute und verleugnete Gefühle ihre ganze Kraft entfalten und den Damm aus Ängsten, Hemmungen und Widerständen überfluten und einreißen! Ich erlebe das alles außergewöhnlich intensiv, fühle mich kraftvoll, bin berauscht und glücklich.
Allerdings steht die Baukolonne zur Reparatur des Dammes schon bereit. Das Baumaterial dazu liefern die Bedenken und Fragen wie: „Was wird daraus entstehen? Wie wird es weitergehen? Was geschieht, wenn ...?“
Die Kolonne hat mit der Arbeit noch nicht begonnen, denn ich lebe zurzeit im ‚Hier und Jetzt’. Mich werden diese Fragen noch früh genug einholen.
Qui vivra verra! Wer leben wird, wird sehen. Nachher ist eine neue Stunde, morgen ein neuer Tag.
* * *
Eleni rüttelt mich sanft aus meinen Gedanken und bittet mich, zu würfeln und zu setzen. Unser erstes Spiel ist noch im Gange, als Anna und Gabi zurückkommen. Sie waren lange fort, müssen im Hotel gewesen sein, denn beide haben sich umgezogen und sind jetzt sportlich gekleidet.
Anna schaut sich um, sucht einen Moment nach mir und stutzt, als sie mich mit Eleni an einem anderen Tisch entdeckt. Sehe ich da eine Beunruhigung in ihrem Blick? Sie kommt zu uns herüber, ihr Parfüm erreicht mich einen Moment vor ihr. Nun stört es mich überhaupt nicht mehr - im Gegenteil.
Ich mache die Frauen miteinander bekannt, erkläre Anna die besondere Bedeutung des deutsch-griechischen Tavli-Wett-streits, wie zuvor den anderen. Dabei betrachte ich sie mit Bewunderung und sage, dass mir ihr neues Outfit sehr gefällt. Sie schaut mir in die Augen, ich versinke in ihrem Blick und erkenne darin ein warmes, liebevolles Verlangen. Hitzewallungen durchströmen mich. Ich frage leise, ob es nachher noch eine Gelegenheit geben wird, etwas gemeinsam zu unternehmen?
Sie schenkt mir ein kryptisches Lächeln, streichelt flüchtig meinen Arm, geht auf meine Frage nicht ein, sondern wünscht mir Glück beim Spiel und kehrt an den Tisch der Gruppe zurück.
Eleni hat uns genau beobachtet. Den Inhalt unseres kurzen Gesprächs wird sie nicht vollständig mitbekommen haben. Sie fragt, ob Anna meine neue Freundin sei? Ich spüre, wie ich erröte, und komme mir wie ein Teenager vor. Mein „Nein“ kommt viel zu schnell und zu nachdrücklich. Ich erkläre umständlich, wie es zu unserer Begegnung gekommen ist. Und um ihren Verdacht zu zerstreuen, füge ich hinzu, dass sie ja mit ihrem Mann und ihrem Sohn gekommen ist. Das war vermutlich zu viel des Guten.
Elenis Lächeln verrät, dass ich mich damit noch verdächtiger gemacht habe, sie mich durchschaut hat und mir mein vorgeblich geringes Interesse für Anna nicht abkauft. So antwortet sie mit einer übertriebenen Entschuldigung wegen ihres Irrtums. Sie habe geglaubt, dass wir uns viel länger kennen. Wir würden sehr gut zusammenpassen und uns sicher gut verstehen. Dann würfelt sie und überlegt, wie sie ihre Steine setzen soll. Ich frage mich, welche Signale meine Nicht-Freundin und ich in diese Welt senden.
Es dauert nicht lange, bis sich an unserem Tisch einige Tavli kundige Zuschauer versammelt haben. Eigentlich dürfen sie nicht helfen, dennoch wird heftig über unsere Spielzüge diskutiert und gestritten. Ich bin nicht ganz bei der Sache, weil mich die Leute ziemlich nervös machen. Außerdem will ich wissen, was Anna gerade tut und schaue immer wieder zu ihr hinüber. Sie sitzt mit dem Rücken zu mir und unterhält sich mit Karin, der freundlichen ‚Entscheidungsschwachen’.
Trotz meiner Unkonzentriertheit gewinne ich zwei Spiele. Dieser Erfolg ist weniger meiner ausgefeilten Spielstrategie, als meinem ungewöhnlichen Glück beim Würfeln zuzuschreiben. Über solche Glückswürfe regt sich Eleni lautstark auf, wird fuchsteufelswild und ist dann überhaupt nicht mehr sanft und warmherzig. Der Spielstand beträgt nun eins zu drei zu meinen Gunsten. Um für heute Abend die Siegerin oder den Sieger ermitteln zu können, vereinbaren wir drei weitere Partien.
* * *
Wir sind vertieft in unser Spiel, als sich schwungvoll krachend die Terrassentür öffnet und Vater Georgios barfuss, in klatsch-nassen, kurzen Hosen und aufgeweichtem T-Shirt eintritt. In jeder Hand hält er einen großen, lebendigen Hummer und strahlt über das ganze Gesicht. Im Nu ist der Kreis unserer Zuschauer zu ihm abgewandert. Anna und die anderen der Tischgruppe haben sich ebenfalls um Georgios und seine Hummer geschart.
Ich überlege, ob ich mich dazustellen soll. Meine Stimme hält mir sofort vor:
„ Was Anna anbetrifft, kannst du dort sowieso nichts ausrichten, du stößt Eleni nur vor den Kopf, weil du das Spiel verschleppst, bei dem sie gerade im Vorteil ist. Sie erkennt sofort, dass der Grund für die Unterbrechung nicht die Hummer, sondern die Frau ist, denn sie weiß ja, dass du die Hummergeschichte schon erlebt hast. Bleib’ also gefälligst sitzen, schau zu, aber spiele weiter!“
Ich erkenne an, dass sie recht hat, und bleibe am Tisch. Elenis lange Bedenkzeiten geben mir ausreichend Gelegenheit, das Geschehen zu beobachten.
Ängstlich und staunend werden die Tiere von den Umstehenden in Augenschein genommen. Es sind zwei wunderschöne Exemplare. Beide etwa gleich groß mit einer Länge von knapp einem halben Meter, bewehrt mit gewaltigen Scheren. Ich schätze das Gewicht der Tiere auf jeweils drei bis vier Kilogramm. Ihre Farbe ist schwer zu bestimmen, Panzer und Scheren weisen ein tiefes Blau mit einigen dunklen Violetttönen auf. Die Flanken sind gelblich-braun, und darin sind einige eingesprenkelte rötliche Flecken. Georgios hält einen Hummer senkrecht nach oben und zwirbelte die beiden langen Fühler am Kopf des Tieres. Daraufhin schlägt der Hummer mit großer Kraft den Schwanz nach innen gegen den Panzer seines Unterleibes. Das erzeugt ein lautes Schnappgeräusch, beinahe einen Knall.
Einige Zuschauer erschrecken und wollen das Ereignis gleich noch einmal sehen. Spyros übernimmt nun die Vorführung des Schwanz-Knall-Reflexes. Fotos werden geschossen. Den zweiten Hummer hält er mit seinem Schuh fest auf den Boden gedrückt. Währenddessen ist Georgios in der Gerätekammer neben der Küche verschwunden und kehrt jetzt mit zwei kinderkopfgroßen Steinen von dort zurück. Es ist ein graues, unregelmäßig geformtes und löchriges Vulkangestein, wie man es hier überall an der Küste findet. An jedem Stein ist eine Schnur von etwa anderthalb Meter Länge durch eine Öffnung im Stein geführt und befestigt. Abrieb und Zerfaserung an einigen Stellen weisen auf häufigen Gebrauch dieser Konstruktion hin. Georgios schlingt nun dem ersten Tier die Schnur um den Leib und verknotet sie. Spyros assistiert ihm. Vielleicht ist es die Kraft des noch nicht gefesselten Hummers, Spyros Unaufmerksamkeit oder ein Teil der Show, jedenfalls gelingt es dem ‚Heruntergedrückten’, sich zu befreien. Die Umstehenden weichen erschreckt und lachend zur Seite. Der Hummer krabbelt auf die Mitte des Gastraumes zu. Vielleicht verspricht ihm das Gewirr aus Menschen- und Möbelbeinen gute Deckung. Georgios und Spyros lassen sich durch die Flucht des Tieres nicht bei der Arbeit stören, sie amüsieren sich über die Reaktionen der Leute.
Das entkommene Tier bewegt sich durch ein Spalier von Zuschauern. Niemand getraut sich, es anzufassen. Plötzlich ein Richtungswechsel, der Hummer nimmt Kurs auf unsere Tischgruppe.
Meine Leute hatten sich nach einer ersten Begutachtung der lebenden Beute wieder zurück begeben und verfolgen von ihrem Platz aus die Flucht des Hummers. Nun aber, da dieses blau-violette Meeres-Monstrum, ausgestattet mit kräftigen Scheren, langen Fühlern und zehn krabbelnden Beinen, langsam und unaufhaltsam wie ein Panzer auf ihren Tisch zusteuert, ist es vorbei mit der Gelassenheit. Was könnte geschehen, wenn das Tier in die ‚Unter-Tisch-Welt’ eindringt, in diesen Hades, abgeschirmt und verdunkelt durch Tischtücher, besiedelt von vielen ungeschützten Füßen und entblößten Beinen? Die der Damen könnten ihm wie Alleen vorkommen, die zum Heraufkrabbeln geradezu einladen.
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