LENA MÜLLER
ROMAN
Die Autorin dankt dem Berliner Senat für das Arbeitsstipendium Literatur 2017.
Zitierte Werke:
Hildegard Heise: Flucht vor der Widersprüchlichkeit. Kapitalistische Produktionsweise und Geschlechterbeziehung , Frankfurt/M. 1986
Kollektiv: EL AMOR Y LA MUERTE EN EL DESIERTO , Berlin (West) 1987
Franz Josef Degenhardt:
Deutscher Sonntag , 1965
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D-22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus 2019
Originalveröffentlichung
Erstausgabe März 2021
Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
1. Auflage
E-Book-ISBN 978-3-96054-250-6
Sie verstehen nicht, was Zeit ist. […]
Sie behaupten, die Vergangenheit sei vorbei, die Zukunft nicht real ,
es gebe keine Veränderung, keine Hoffnung .
Ursula Le Guin (1974)
I
Wer viel erreicht, kann viel erwarten . Sando schaut aus dem Fenster, sieht, wie Birken gefällt und Sandhügel abgetragen werden. Wie eine Grube ausgehoben wird, größer als drei Fußballplätze. Darüber das Schild und der Spruch. Sando sieht, wie Probebohrungen gemacht werden, weil alte Minen befürchtet werden. Spürt, wie die Wände seiner Wohnung wackeln, als das Loch tiefer gegraben wird. Sieht, wie Bauarbeiter mit Bewegungen, die ihm athletisch erscheinen, den Boden der Grube mit Beton ausgießen und darüber Gitterkonstruktionen anbringen, die dann ebenfalls mit Beton übergossen werden. Wie die Bauarbeiter auf diese Weise Wände in die Höhe ziehen. Wie sie Stockwerk auf Stockwerk setzen. Vom frühen Morgen bis zum Abend drehen sich die Kräne. Und das Schild, das nachts leuchtet: Freuen Sie sich auf 42 neue Eigentumswohnungen. Jetzt reservieren. Wer viel erreicht, kann viel erwarten .
Letzteres in hoffnungsvollem Blau und schwungvoller Schrift, eine Art Essenz des Ganzen – der Grube, Umwälzungen, unternommenen Anstrengungen. Und weil Sando ständig rüberschaut, liest er auch das Schild über die Wochen viel zu oft. Wer viel erreicht, kann’s kaum erwarten. Wer viel erreicht, hat kaum gewartet. Wer viel erwartet … Ähm ja.
Sieht zu, wie große Fenster eingebaut, wie die Außenwände eierschalenweiß verputzt und unten im Erdgeschoss verklinkert werden. Ein robustes Gebäude auf sandigem Grund. Eine Kreissäge wird am frühen Morgen angeworfen und kreischt bis in den Nachmittag. Sando hat den Eindruck, nicht mehr richtig denken zu können. Ihm ist, als habe er viele Monate nichts getan als zuzuschauen, wie die Bauarbeiter ihre Arbeit machen.
Was nicht ganz stimmt: Er ist durch die Stadt gelaufen wie jemand, für den Zeit keine Rolle spielt, geradezu enervierend langsam durch die Gänge der U-Bahn, die anderen in ihrem Lauf ausbremsend. Er tut, als sei er für diese an sich naheliegende Sache unempfänglich, für eine Schrittgeschwindigkeit, die sich anbietet, sich aufdrängt. Er schleicht, wo es nichts zu sehen gibt, wo es stinkt, durch die vielgeatmete Luft, als habe er die Ewigkeit gepachtet, als wären diese Gänge sein Lustgarten. Denkt daran, dass der Fuchs dieselbe Luft atmet wie er. Denkt dann, dass Hunderttausende Menschen dieselbe Luft atmen. Fragt sich, wie sie es angehen, wie sie Schritt halten. Viele schaffen es, auch unter schwierigen Bedingungen. Manche haben Verluste und gebrochene Herzen im Gepäck oder führen eine Schwermut mit, eine von Generation zu Generation weitergegebene, die Zeiten und Lebensumstände überdauernde, anpassungsfreudige Schwermut, tragen sie durch die Stadt, Schwermut aus aller Welt, eine Art weltumspannende Traurigkeit. Manche können sich besser abfinden. Geben weniger auf Vergangenes, wer weiß. Er weiß es nicht. Aber ihm scheint, dass dieses Ende, das Ende vom Fuchs, vom Leben mit dem Fuchs, unerklärlich ist, und in diesem unerklärlichen Zustand tut er: nichts. Nicht viel. Prüft die Dicke der Eisschicht auf dem Wasser mit den Augen, wartet, dass sie schmilzt und die Dinge auf dem Eis versinken, der Einkaufswagen, der Fernseher, die Zimmerpflanze ohne Topf. Sieht, wie ein Mann sich mit einem Mülleimer bespricht. Der Mund des Eimers weit geöffnet, Mann und Mülleimer sich auf Augenhöhe begegnend, einander zugeneigt. Der Wunsch, es ihnen gleichzutun. Die Angst, es ihnen gleichzutun. Immer beides gleichzeitig. Schläft schlecht, schläft wenig, wird früh wach. Sieht durchs Fenster in den Morgenhimmel. Riecht, als es wieder Frühling wird. Als an einem frühen Morgen die ersten neuen Nachbarn auf ihrer Dachterrasse stehen, ruft Mili an.
»Sando?«
»Ja, am Apparat.«
Sie fragt, wie es ihm geht. Bestens. Pause. Er hört sie einatmen und findet Gefallen daran, sie zu hören. Dann spricht sie weiter.
»Gestern hatte ich Dieter am Telefon.«
Sando meldet sich selten bei den Eltern, Dieter und Clara, er könnte selbst nicht sagen warum. Oft hat er ein schlechtes Gewissen, immer hofft er, dass sie zufrieden sind und ihn nicht brauchen.
»Clara ist weg.«
»Weg?« Sando setzt sich auf, plötzlich hat er den Eindruck, als würde Haltung eine Rolle spielen beim Aufnehmen dieser Nachricht.
»Als ich auflegen wollte, sagte er plötzlich, dass sie gefahren und nicht zurückgekommen ist.«
»Seit wann?«
»Seit drei Tagen. Heute dann vier. Dieter sagt, wir sollen uns keine Sorgen machen. Er denkt, dass alles in Ordnung ist, dass sie eine Auszeit nimmt.«
»Das hat er gesagt?«
»Er sagt, dass sie nicht an ihr Telefon geht. Was aber auch nicht weiter ungewöhnlich sei.«
»Und meinst du, das denkt er wirklich?«
»Er wirkte nicht sehr beunruhigt.«
Eine Krähe landet auf dem Balkon, krächzt, pickt im leeren Blumenkasten.
»Und jetzt?«
»Naja. Ich denke, wir sollten hinfahren.«
Sando beobachtet, wie die Katze den Kopf einzieht und hinter der Schwelle der Balkontür in Deckung geht.
»Du meinst sofort?«
»Ja.«
Sando nimmt die Katze, zuerst wehrt sie sich gegen die plötzliche Zuwendung, dann lässt sie sich streicheln. Er trägt sie zur Tür, hält sie in einer Hand, drückt mit der anderen die Klinke nach unten. Die Katze beginnt zu zappeln, er hält sie fest, trägt sie über den Treppenabsatz zur Wohnungstür gegenüber. Klingelt, wartet. Tis, die Nachbarin, arbeitet Schicht. Zweimal von sechs bis zwei, zweimal von zwei bis zehn, zweimal von zehn bis sechs, dann drei Tage frei, einer zum Schlafen, einer zum Leben, einer für den Rest. Wenn sie frei hat, muss sie die Beine hochlegen, damit alles wieder fließt. Tis öffnet die Tür, ein wenig verschlafen, aber wach. Sando hält ihr die Katze hin.
»Kannst du auf sie aufpassen?«
»Guten Morgen.«
»Ich muss für ein paar Tage weg.«
Tis schaut nachdenklich die Katze an.
»Nur, dass sie nicht verhungert.«
»Gut, ich kann sie füttern.«
»Aber auch streicheln.«
»Okay.«
Sando versucht sich an einem Lächeln. Er hebt die Katze höher, wie zum Gruß, die schafft den Absprung und entwischt in Tis’ Wohnung.
»Tschüs Katze.«
»Tschüs Sando.« Tis gähnt.
»Also dann.«
Im Dunkeln fährt Sando noch einmal ins Institut. The city never sleeps. Die Uni auch nicht . Ein eigenes Büro, eine gute Stelle, wenn auch befristet. Sando fröstelt, dreht die Heizung an. Seit er die Stelle angetreten hat, tut er so, als würde er eine Promotion verfassen, eine Arbeit zum Konjunktiv, Mögliche Welten – Start-Up-Unternehmen und ihre Narrative . Oder so ähnlich. Schreibt wenig, ein paar Notizen, Fetzen, Halbsätze, Listen ohne Anfang, ohne Ende, jedenfalls nichts, was konsistent wäre. Liest ohne System und sprunghaft. Erledigt die Aufgaben, die ihm aufgetragen werden. Denkt nach, würde seine Gedanken auch gerne zur Diskussion stellen, die Ideen anderer aufgreifen und weiterdenken, sehen, welche Wege das Denken einschlägt. So hatte er es sich vorgestellt und das hatte ihm als Grund gereicht, um am Institut zu bleiben. Aber daran scheitert es oder scheitert er. Allein im breiten Flur . Soll sich strukturieren, produzieren, liefern. Und Sando, der keine Zeile mehr schreibt. Aus Liebeskummer. Oder warum auch immer.
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