Rainer Müller-Hahn
Xespasmata - Ausbrüche
- ein schicksalshafter Urlaub -
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Inhaltsverzeichnis
Titel Rainer Müller-Hahn Xespasmata - Ausbrüche - ein schicksalshafter Urlaub - Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Ich schrecke hoch aus einem wirren Traum und muss mich für einen Moment lang neu orientieren. Bin wieder mal beim Lesen eingeschlafen. Das Buch ist heruntergefallen, die Brille verrutscht, das Hemd offen. Der Wind hat aufgefrischt. Nach der Hitze des Tages ist es jetzt kühl. Ich fröstle.
Meine Haut brennt ein wenig. Es ist der Preis für langes Liegen in der Sonne. Noch empfinde ich es als angenehmes Brennen. Später wird es sich zum Sonnenbrand entwickeln und bei der Berührung mit der Kleidung oder dem Bettzeug ins Unangenehme umschlagen.
An einigen Stellen meiner Haut hat sich auf dem verbliebenen Sonnenölfilm eine dünne Schicht Sandkörnchen angesammelt. Sand auch auf der Kleidung und dem Handtuch.
Das Handtuch ist immer noch ein wenig feucht. Seit meinem letzten Bad im Meer vor zwei Stunden hat die Sonne wohl nicht mehr die Kraft besessen, es zu trocknen. Wahrscheinlich hält das Salz die Feuchte fest.
Ich richte mich auf, schließe die Knöpfe des Hemdes, stelle die Rückenlehne der Strandliege steiler und lehne mich aufrecht sitzend dagegen. Für mich beginnt jetzt die schönste Zeit am Strand, und ich will noch eine Weile das Meer beobachten. Der Übergang von Himmel und Meer ist nicht mehr genau zu erkennen. Der Dunststreifen am Horizont hat beide weich miteinander verschmolzen.
Darüber steht die Sonne, sie hat bereits einen rötlichen Schein angenommen. Wolken, welche die Sonne kurzzeitig verdecken, leuchten auf mit goldenem Saum, gleißend helle Strahlenbündel fluten hervor und zeichnen helle Flächen auf die Meeresoberfläche.
Das Meer ist blauschwarz und wirkt auf mich irgendwie bedrohlich und unheimlich. Der Wind ist noch nicht stark genug, um Schaumkronen darauf tanzen zu lassen. Brandungswellen rollen in Dreierreihe auf den Strand zu. Nach Homer sind es die ‚nimmermüden Rosse des Poseidon’. Sie wachsen hervor aus der Dunkelheit des Wassers, als wollten sie den Wassermassen vorauseilen, bäumen sich auf mit weißer Krone, brechen, wenn sie ihre größte Höhe erreicht und sich ihre Farbe in ein helles, fast durchsichtiges Grün gewandelt hat, zerbersten beim Aufschlagen in brodelnde Gischt und spülen einen dünnen weißen Schaumteppich auf den Strand.
Der Rhythmus der Brandung nimmt mich gefangen. Er ist nicht gleichmäßig. Manche Wellen kippen in ihrer ganzen Länge plump und laut platschend, andere brechen in einer eleganteren Rollbewegung: Die Welle beginnt an einer Seite zu kippen, ihr Überschlag verläuft parallel zum Strand und bildet einen Tunnel. Dabei entstehen auf dem Scheitel, also dort, wo die Welle sich teilt, kleine senkrechte Fontänen, die wie ein silbernes Band über ihr mitlaufen - vielleicht die Mähnen der Rosse des Meeresgottes?
Auch ist das Geräusch dieser Wellen ein anderes. Zunächst höre ich ein leises Zischen. Es startet auf einer Seite, schwillt an zu einem kraftvollen Rauschen und ebbt zur anderen Seite schnell wieder ab.
Die Begleitung zu den verschiedenen Melodien der Wellen bildet das Rascheln der Kieselsteine, die vom zurücklaufenden Wasser aneinander gerieben werden. Hier bleibt die Tonlage des Geräusches gleich, verschieden ist aber die Dauer. Diese hängt davon ab, wie weit die Welle auf den Strand gelaufen ist und wie lange sie benötigt, über das Kieselfeld zurückzufließen.
Ich versuche, ernsthaft vorherzusagen, welche Welle am weitesten auf den Strand gelangen wird. Das scheint sich nach folgender Regel zu vollziehen: Wenn eine große einer kleinen Welle folgt und beide kurz nacheinander brechen, wird das Wasser der kleinen Welle durch die Wucht und Masse der Großen weit auf das Ufer gedrückt. Dagegen hat selbst eine große Welle, sobald sie in das zurücklaufende Wasser der vorangegangenen umschlägt, kaum die Kraft, sich weit über das Ufer zu verbreiten.
Wann nun aber diese Konstellation eintritt, groß folgt klein, kann ich nicht sicher prophezeien. Wellenkunde ist nicht einfach.
Dieses Schauspiel aus Licht, Bewegung und Musik bannt mich immer wieder, versetzt mich in eine Art Trance, erzeugt in mir eine merkwürdige Mischung aus Gelassenheit und zugleich konzentrierter Spannung. Äußere Einflüsse werden abgeschirmt und in den Hintergrund gedrängt. Es ist ein aktives Abschalten, eine besondere Art, das Gegenwartsbewusstsein zu verdichten. Es fällt mir schwer, mich davon zu lösen.
Eine Böe bläst mir feinen Sand ins Gesicht, als wollte der Wind daran erinnern, dass auch er eine wichtige Rolle in dieser Inszenierung spielt. Tatsächlich habe ich ihn bisher nicht sonderlich beachtet.
Er ist stärker geworden und demonstriert nun seine Kraft, indem er Sand aufwirbelt, einen Sonnenschirm erfasst und diesen wie betrunken über den leeren Strand torkeln lässt. Schon hat er erste weiße Schaumkronen auf das Wasser gezaubert.
Ich wende mich wieder dem Spiel der Wellen zu und verfalle schnell in den meditativen Zustand, es ist, als würde mein Inneres die Wellenbewegungen nachvollziehen.
Plötzlich drängt sich der Wunsch in mein Bewusstsein, diese Eindrücke mit einem anderen Menschen zu teilen.
Gesichter tauchen auf, werden verworfen. Ein Bild bleibt: Es ist das einer Frau, die ich hier vor einigen Tagen getroffen habe. Wir sind heute Abend - zusammen mit ihrem Mann und Sohn sowie zwei anderen Ehepaaren - zum Essen verabredet. Ich bin über meine Wahl fast erschrocken und tausche das Bild schnell gegen das einer anderen Urlauberin aus.
Vielleicht ist es ein Teil elterlicher Hinterlassenschaft, die Vernunft, die sich als innere Stimme jetzt empört:
„ Du meine Güte Michael! Was willst du eigentlich? Du fährst in dein Refugium, freust dich auf das Allein- und Unabhängigsein und beginnst schon wie der Sonnenschirm beim ersten Windstoß zu schwanken.“ Ich ignoriere diesen Kommentar, es ist zwecklos, etwas dagegen einzuwenden.
Nun beuge ich mich auf der Strandliege nach vorne, lehne mich gleich wieder zurück und hole dadurch Schwung, um aufzustehen. Es gelingt mir gleich beim ersten Mal. Ich stehe breitbeinig, die Liege zwischen meinen Beinen. Steif und verkrampft steige ich mit dem linken Bein auf die andere Seite. Meine Badehose liegt im Sand. Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich sie mit dem Fuß hoch schleudern und mit der Hand aus der Luft fangen sollte. Dieses Manöver ist nicht schwierig, habe es lange mit Unterhosen geübt, und es sieht dazu noch recht elegant aus. Bei einer mit Sand bedeckten Badehose hat diese Technik jedoch den Nachteil, dass man dabei eine Fuhre Sand abbekommt. Also bücke ich mich schwerfällig, ergreife die Badehose und mache mich auf, sie im Meer auszuspülen.
Es ist nur ein kurzer Weg zum Wasser. Barfuss mit vorsichtigen Schritten überwinde ich ein Feld unterschiedlich großer, glatt geschliffener Steine, das weit ins Wasser reicht. Die Steine sind nass, und man kann vortrefflich darauf ausrutschen. Noch ein letzter ausholender Schritt, die schlüpfrige Gefahrenzone ist überwunden, und ich stehe fest auf weichem, sandigem Meeresboden. Das Wasser reicht mir bis zum Knie. Es ist angenehm warm. Ob ich noch eine Runde schwimme? Sofort ist meine innere Stimme zur Stelle:
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