Noch sträube ich mich, mit eigenen Zärtlichkeiten auf die ihren zu antworten. Ich möchte dieses spannungsgeladene Spiel so lange wie möglich fortsetzen, um Annas Werbung weiterhin zu genießen. Außerdem wird dadurch auch die Illusion am Leben erhalten, ich besäße noch einen Rückweg. Schließlich benötige ich Zeit, mich von lieb gewonnener Freiheit und Ungebundenheit zu verabschieden. Ihre Liebeserklärungen unter und über dem Tisch sind nachdrücklicher geworden. Anna bemüht sich kaum, sie vor den anderen zu verbergen, und mir fällt es immer schwerer, diese Zärtlichkeiten unbeachtet und unbeantwortet zu lassen. Anna ist darüber wohl verwundert, denn sie fragt leise:
„Ist dir das unangenehm, was ich hier mache?“
„Nein, überhaupt nicht, es bringt mich nur durcheinander.“ „Das soll es auch!“, lacht sie und prostet mir zu.
Von den anderen am Tisch bekomme ich einige Sätze mit, ohne wirklich zuzuhören. Man hat sich jetzt wieder der Tourenplanung zugewandt und studiert weiter konzentriert die Landkarte. Was Anna und mich betrifft, tut man so, als gäbe es uns nicht. Es ist wie im Aufzug eines Hochhauses, wo die mitfahrenden Personen in drangvoller Enge unverwandt auf ihre Schuhspitzen oder auf die Knopfleiste starren und krampfhaft versuchen, so zu tun, als sei niemand außer ihnen anwesend.
* * *
Gerade will ich Anna zuraunen, dass ich mich wegen Klaus unwohl fühle, da ertönt plötzlich dessen Stimme:
„Sag Anna, wollen wir uns noch eine Karaffe Wein teilen?“ Dann winkt er mit einem Prospekt und sagt, „komm’ setzt dich zu mir, und schau dir das an, da könnten wir doch mal hinfahren.“
Seine Stimme dröhnt in meinen Ohren so laut, wie die Jets im Vorbeiflug. Auch sie zerstört. Hier ist es die intime Atmosphäre zwischen mir und Anna. Die Tatsache, dass ich Klaus’ Rückkehr von der Toilette nicht bewusst wahrgenommen habe, macht mir klar, wie weit ich mich mit Anna von allen anderen entfernt habe.
Bisher hatte Klaus unsere Gespräche schweigend hingenommen. Mit seiner Frage und Aufforderung an Anna bringt er sich wieder als Annas Partner ins Spiel und zeigt, dass er eine Fortsetzung unseres vertrauten Gesprächs nicht weiter zulassen will. Damit führt er den wirkungsvollsten Angriff auf unsere Festung.
Hinter den Attacken der anderen stand nur das Bedürfnis, uns einzubeziehen. Deshalb waren sie leicht abzuwehren. Der Eingriff von Klaus will nicht einbeziehen, sondern will trennen. War ich den anderen gegenüber vielleicht unhöflich, so bin ich Klaus gegenüber gewiss unmoralisch. Es bleiben das Bewusstsein, ertappt worden zu sein und ein paar Schuldgefühle. Anna dagegen wirkt eher verärgert, so als habe nicht sie, sondern er etwas falsch gemacht.
„Nein danke, ich habe noch, ich sehe mir das vielleicht später an.“, sagt sie unwirsch, ohne sich ihm zuzuwenden. Haltung und Tonfall aber sagen „Lass uns in Ruhe! Misch dich nicht ein!“ Klaus’ Reaktion darauf ist ein süffisantes Lächeln.
Nun kehrt auch Karin zurück und setzt sich brav neben Wolfgang. Der wendet sich ihr mit falschem Lächeln zu, tätschelt ihre Hand und tut so, als wäre sie ein Jahr lang fort gewesen. Will er uns demonstrieren, wie eine liebevolle und stabile Beziehung aussieht? Das wäre dann ein misslungener Versuch. Wahrscheinlich haben die Anderen Klaus’ Eingriff als Hilferuf verstanden, denn nun setzt eine muntere Geschäftigkeit ein, uns auseinander zu bringen.
So fragt Gabi, ob Anna sie auf die Toilette begleiten würde. Was doch so eine Toilette für bedeutsame Nebenfunktionen besitzt! Asyl und Zuflucht, Ort der Begegnung, Aussprache und Besinnung, Ausweichplatz und Raum zur Wiederherstellung der äußeren und inneren Verfassung!
Anna reagiert auf die Bitte zunächst etwas unwillig, erklärt sich dann aber doch bereit, mit ihr zu gehen.
Ich mache mich ebenfalls auf den Weg dorthin, folge den beiden Frauen in der Hoffnung, bei Klaus den Eindruck zu erwecken, dass ich mit Anna verschwinden will. Das ist es, was ich mir sehnsüchtig wünsche, mich aber nicht zu tun getraue. Wenigstens hoffe ich, trotz schlechten Gewissens, dass er darüber beunruhigt ist. Unsere Festung aber ist nun geschleift.
Als ich zurückkomme, bemerke ich bei Klaus Erleichterung, oder bilde ich mir das nur ein? Von Anna und Gabi ist nichts zu sehen.
Noch bevor ich mich setzen kann, empfängt mich Günter aufgekratzt mit der Frage, ob ich etwas über die Navigation von Schiffen weiß, die ja wohl nach ähnlichen Prinzipien funktioniert wie bei Flugzeugen. Ich murmele verwirrt und ausweichend, dass ich mich dort nicht so genau auskenne. Er ist redlich bemüht, mich in das Gespräch einzubeziehen und berichtet mit gewinnendem Lächeln, dass man das Medium gewechselt hat, man ist von der Luft- zur Seefahrt gelangt und diskutiert über Seefähren und deren Zuverlässigkeit.
Wolfgang und Karin sind mit einer solchen Fähre auf die Insel gekommen und haben sich besorgt über den anscheinend schlechten Zustand des Schiffes geäußert. Wie spannend! Auf solch ein Thema habe ich den ganzen Abend gehofft.
„ Siehst du, das ist die Strafe!“, feixt meine Stimme. Diesmal sehe ich das genauso. Zu Günter und den anderen sage ich vorsichtig, dass ich wahrscheinlich nicht viel zum Thema beitragen kann und erst mal zuhören möchte. Das tue ich eine Weile ohne Interesse, habe Mühe, mein Gähnen zu unterdrücken und nicht zu oft in Richtung Toilette zu blicken, von wo ich Anna zurück erwarte. Wolfgang beklagt nun nochmals, warum eine solch klapprige Fähre, mit der sie angereist sind, nicht außer Dienst gestellt wird. Klaus wendet ein, dass sie dann ausgemustert werden muss, wenn die technische Sicherheit nicht mehr gewährleistet ist, das aber könne man am äußeren Zustand des Schiffes nicht notwendigerweise erkennen. Wenn eine ständige und sorgfältige Wartung von qualifiziertem Personal vorgenommen wird, kann das Schiff eine sehr lange Lebens- und Leistungsdauer erreichen. Es müssen eben alle Verschleiß- und Gefährdungsfaktoren erkannt und behoben werden, wichtig sei vor allem, betont er mehrfach, dass die notwendigen Vorschriften unbedingt eingehalten werden müssen. Seine Behauptungen trägt er so nachdrücklich und bestimmt vor, dass jeder Widerspruch aussichtslos erscheint.
Ist es mein Kampf gegen die Müdigkeit, oder spüre ich so etwas wie Provokation, die mich aus meinem dämmerigen Zustand herausholt? Jedenfalls bringe ich mich nun ins Gespräch ein, indem ich zunächst zustimme und bestätige, dass auch Flugzeuge noch im Dienst sind, obwohl sie viele Jahre auf dem Buckel hätten. Verantwortlich dafür sind streng kontrollierte Wartungsrhythmen und ein System der Vorbeugung, wonach technische Aggregate, obwohl sie noch nicht schadhaft sind, nach festgelegten Nutzungszeiten ausgetauscht werden müssen. Vermutlich wird es ähnliche Vorschriften in der Schifffahrt geben.
Ich behaupte dann, dass die Güte der Wartung eines technischen Systems nicht allein für die Nutzungsdauer maßgeblich ist, sondern genauso der ökonomische Ertrag, den es erbringt. So sollte eine Fähre außer Dienst gestellt werden, wenn die Reparatur- und Wartungskosten den wirtschaftlichen Ertrag auffressen und wenn neue Technik verfügbar ist, die höhere Sicherheit und Effektivität ermöglichen. Klaus lehnt sich zurück und wirkt nachdenklich. Ich spüre sein Widerstreben, und mir drängt sich der Eindruck auf, dass wir über etwas ganz anderes sprechen.
In einem Gedankenspiel ersetze ich den Begriff „Seefähre“ durch „Partnerbeziehung“, und plötzlich gewinnt das Thema eine neue Bedeutung, wird interessant und brisant. Das Problem, das Anna und ich mit unserem Techtelmechtel aufgeworfen haben, führt zu der Frage nach der Stabilität und Lebensdauer vorhandener Beziehungen. Möglicherweise diskutieren wir dieses Thema in dieser verschlüsselten Form.
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