1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 So entsteht eine eigenartige Choreografie, von teils sitzenden, teils stehenden, laufenden, sich nicht anschauenden, griechische und deutsche Begrüßungsfloskeln murmelnden, unverständliche Namen wiederholenden, Hände suchenden und Hände schüttelnden Menschen.
Es ähnelt einem Kinderspiel, in dem man nacheinander, in immer schnellerem Wechsel die Hände übereinander stapelt. Wenn die eigene Hand zur Untersten geworden ist, muss sie so schnell wie möglich wieder oben auf den Stapel gebracht werden. Schließlich führt das immer höhere Tempo des Wechsels zu einem wilden, unkoordinierten Händeschlagen. Ähnliches geschieht hier. Nach kurzer Zeit - das Ganze dauert kaum eine Minute - wird den meisten am Tisch die Absurdität des Geschehens bewusst. Man reicht sich immer schneller die Hände, klatscht schließlich nur noch darauf, bis alles unter Lachen in sich zusammenfällt.
Noch aber ist nicht alles erledigt. Christos bleibt am vorderen Tischende stehen und bittet mich mit feierlichem Gesicht, aufzustehen und ihm zu folgen. Er ist vom Händeschütteln ziemlich stark in Schweiß geraten. Das kann ich sehen und auch ein wenig riechen. Er bleibt mit mir an der seitlichen Fensterfront stehen, sodass alle uns sehen können. Nun ruft er laut in den Raum hinein, bittet um Ruhe, er habe etwas zu verkünden. Christos scheint Autorität zu genießen, denn schlagartig hören die Gespräche auf, und es entsteht eine erwartungsvolle Stille. Er legt nun seinen Arm freundschaftlich um meine Schulter. Dabei muss er sich wegen unserer sehr unterschiedlichen Körpergröße gewaltig recken. So hängt er, plump wie ein Kartoffelsack, für eine Weile an meiner linken Seite - eine Körperhaltung, die der Feierlichkeit dieses Augenblickes nicht gerecht wird.
Ich schaue hinüber zu unserem Tisch und begegne Annas Blick. Sie scheint die Einzige zu sein, die diese Situation komisch findet und versucht, mit Mühe hinter vorgehaltener Hand ihre Heiterkeit zu verbergen. Ihre Augen haben sich zu Schlitzen verkleinert und sind von einem Strahlenkranz unzähliger Lachfältchen umgeben. Als sich unsere Blicke treffen, geht von ihr ein unbändiger Lachreiz auf mich über. Nach einer kurzen mimischen Entgleisung bekomme ich mich und mein Gesicht noch rechtzeitig in den Griff, werde ernst und sende ihr einen übertrieben tadelnden Blick zu. Der soll ausdrücken, wie bedauerlich ich es finde, dass sie in dieser weihevollen Situation die notwendige sittliche Reife fehlen lässt. Dieser mimische Verweis ist wohl der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Als wäre sie erschreckt worden, reißt sie die Augen auf, versucht, noch einige Sekunden das Lachen zu unterdrücken, aber dann prustet es laut aus ihr heraus. Aus dem Mund dringen spitze, fiepende Töne wie die Schnarchgeräusche eines jungen Hundes. Tränen kullern, und aufgelöste Wimperntusche zeichnet Striche auf die Wangen. Sie wischt sich die Tränen mit der Hand ab und verschmiert das Make-up noch stärker, steht hastig auf und läuft gebeugt zur Toilette, als müsste sie sich übergeben. Fragende und verständnislose Blicke folgen ihr. Am Tisch wendet man sich irritiert an den Ehemann, um von ihm zu erfahren, was mit seiner Frau los sei. Dieser steht - genauer - sitzt der ganzen Situation ebenso hilflos gegenüber wie die Fragenden. Ihm ist diese Art von Aufmerksamkeit sichtlich unangenehm, und er bemüht sich, mit Worten und Gesten zu erklären, dass man ihr sonderbares Verhalten nicht weiter beachten sollte. Seine Frau reagiere manchmal seltsam, sei eben ein bisschen überdreht, habe sich nicht immer im Griff, aber sie würde sich ganz bestimmt wieder einkriegen.
Ich empfinde seine Bemerkungen als herablassend und unfair, weil er damit seine Frau zu einer überspannten, harmlosen Verrückten abstempelt, die gelegentlich unerklärliche Anfälle bekommt.
Dieses Ereignis hat die feierliche und bedeutungsschwere Atmosphäre unterbrochen. Es gibt dem verwundert dreinschauenden Christos und mir Gelegenheit, unsere unbequeme Stellung zu verändern, indem er seinen Arm um meine Hüfte und ich ihm meinen Arm auf seine Schultern lege.
Nach dem Zwischenfall haben sich die meisten Leute auf der Terrasse uns wieder zugewandt. Die Aufmerksamkeit der Übrigen klopft Christos energisch mit der Gabel am Bierglas herbei.
Nun folgt die Ansprache. Christos redet dabei so laut, als hätte er ein Auditorium in Bataillonsstärke vor sich. Mit weit ausholenden, lebhaften Gesten wendet er sich dabei an mich und an die Zuhörer. Auf einige seiner Aussagen folgt dünner Beifall, hauptsächlich der von Ehefrau und Schwägerin. Er beendet seine Rede mit einer verschwitzten Umarmung und zwei feuchten Küssen auf meine rechte und linke Wange. Nun erst brandet Applaus von den übrigen Zuhörern auf.
Seine Liebkosungen kommen für mich unerwartet, und so kann ich mich nicht mehr rechtzeitig zu ihm herunterbeugen. Er sieht jetzt aus wie ein Boxerhund, der sein Herrchen begrüßt und dessen Gesicht abschleckt. Nun habe ich wieder alle Mühe, mein Lachen zu unterdrücken, ergreife beide Hände, schüttele sie anhaltend und bedanke mich bei ihm.
Mit großer Geste erteilt Christos zum Abschluss noch die Order, mir ein Bier und einen Ouzo auf seine Rechnung zu bringen. Dann setzt er sich an den Tisch zu seinen Damen. Die Ansprache wird mir später sinngemäß übersetzt. Ich sei ein wichtiger Mann aus Deutschland, den er seit vielen Jahren kenne. Ich käme mit meiner Familie sehr oft hierher und wäre ein großer Bewunderer der griechischen Geschichte, Kultur und Lebensart und ein Freund dieser Insel, ihrer Menschen, ihrer Musik und ihrer Küche. Er sei glücklich, sich zu meinen Freunden zählen zu dürfen.
* * *
Kurz darauf wird unter lautem Hallo das Essen an unserem Tisch serviert.
Anna kommt erholt mit wieder aufgearbeitetem Gesicht und gesetzter Haltung von der Toilette zurück. Bevor sie sich setzt, bleibt sie hinter meinem Stuhl stehen, beugt sich zu mir herab und raunt mir liebevoll drohend ins Ohr: „Du elender Schuft, das wirst du mir büßen!“ Sie setzt sich und widmet sich ihrem Essen.
Am Tisch wird nicht gesprochen. Niemand sagt etwas über Annas Lachanfall oder richtet Fragen an sie. Es wird so getan, als sei nichts vorgefallen. Die Stille dröhnt geradezu in meinem Kopf. Ich höre erstmals bewusst die griechische Musik aus den Lautsprechern, die schon den ganzen Abend über spielt. Was läuft hier ab?
Um zu verstehen, warum eine Person so oder anders gehandelt hat, würde man sie normalerweise dazu befragen. Das geschieht aber nicht.
Man würde nicht fragen, wenn die Person oder deren Beweggründe nicht interessierten. Dies dürfte im vorliegenden Fall nicht zutreffen, denn man wollte sogleich von Klaus wissen, was in Anna gefahren sei.
Man könnte allerdings dann auf Fragen verzichten, wenn man die Gründe bereits kennt oder zu kennen glaubt, oder wenn solche Fragen einen selbst und die betroffene Person in Schwierigkeiten brächten.
Dies könnte die Ursache der entstandenen Sprachlosigkeit sein, denn Klaus hat ja bereits die Unerklärbarkeit von Annas Anfällen erklärt. Er hält Anna für ein bisschen verdreht und unberechenbar; als ihr Ehemann muss er es ja wissen. Anna weiter zu befragen, hieße indiskret sein und ein mit Peinlichkeiten und unerwarteten Reaktionen vermintes Gelände zu betreten. Ähnlich wie ich, muss sich auch Anna mit der gegenwärtigen Situation auseinandergesetzt haben, denn plötzlich fragt sie: „Leute, heraus mit der Sprache, habt ihr irgendetwas, gibt’s Probleme mit mir?“
Die anderen schrecken auf, ich sehe Verlegenheit und höre erstaunte Antworten: „Nein, wieso, überhaupt nicht, wie kommst du darauf?“
Anna schaut herausfordernd jeden in der Runde an. „Na dann ist es ja gut, wenn es Fragen gibt, will ich sie gern beantworten.“
Es wird nicht gefragt. Als wollte man beweisen, dass alles in Ordnung ist, kommt ein krampfhaftes Gespräch in Gang, so stockend wie ein kalter Motor.
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