1 ...7 8 9 11 12 13 ...22 Klaus verfolgt das Geschehen gebannt mit maskenhaftem Gesicht, den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Ellenbogen aufgestützt, Handflächen wie im Gebet vor dem Mund. Von ihm geht eine starke Anspannung aus.
Michael nimmt von den Ereignissen am Tisch kaum Notiz. Seine Aufmerksamkeit gilt nach wie vor der jungen griechischen Dame.
Gabi hat den kleinen Taschenspiegel beiseitegelegt, mit dem sie gerade Frisur und Make-up überprüft hat. Mit leicht geöffnetem Mund beobachtet sie nun Annas Balanceakt, was sie ein wenig dümmlich aussehen lässt.
Günter, obwohl er noch nichts zu Essen bekommen hat, pult hinter vorgehaltener Hand in seinen Zähnen, die Augen unentwegt auf Anna gerichtet.
Wolfgang ist in seinen Stuhl zurückgesunken und wirkt betont gelassen und desinteressiert. Ich meine bei ihm etwas Hämisch-Feindseliges zu erkennen, eine Haltung, die ich mit dem gegenwärtigen Geschehen nicht in Verbindung bringen kann. Ich bin aber überzeugt davon, dass er sich freuen würde, wenn Anna das Stück Fisch fallen ließe.
Meine Stimme greift ein: „Ach Unsinn, woher willst du das wissen, du kannst ihn nur nicht leiden.“ Anders verhält sich Karin. Sie wirkt nervös und verkrampft, nestelt weiterhin an ihrem Taschentuch herum. Ihr sehe ich die Angst an, Anna könne einen Fehler machen. Diese Angst ist jedoch unbegründet, denn Anna gelingt der Handwechsel problemlos. Sie hält die Gabel mit dem Fisch jetzt ruhig in der linken Hand. Nun nimmt sie mit der anderen ein Stück Zitrone vom Beilagenteller, träufelt etwas Zitronensaft auf den Fisch und führt den so veredelten Bissen sicher zum Mund. Spürbare Erleichterung bei mir und den anderen. Eigentlich fehlt nur der Beifall wie nach einer gelungenen Zirkusnummer. Ich biete ihr mit einer Geste an, sich weiter zu bedienen. Sie lehnt ohne Worte ab, indem sie die Gabel abwehrend hin und her bewegt. Nachdem sie das Stück Fisch heruntergeschluckt hat, erhalte ich ein leises Dankeschön, zusammen mit einem warmen, ein wenig aufreizenden Blick, der mich berührt und beunruhigt. Zu ihrem Ehemann gewandt sagt sie, dass sie einen solchen Fisch demnächst zum Abendessen bestellen werde.
Meine plötzliche aufkommende Vorstellung, anstelle des Fisches von ihr zum Abend vernascht zu werden, irritiert mich, und ich verscheuche sie ärgerlich, wie eine lästige Fliege. Was ein schöner Busen so alles anrichten kann!
Die allgemeine Aufmerksamkeit wendet sich von ihr ab. Noch hängt die Frage nach dem Fortgang von Günters Geschichte wie das Damoklesschwert über unseren Köpfen. Gott Lob getraut sich keiner, sie zu stellen. Ebenso scheinen die Erzähler froh zu sein - im wahrsten Sinne des Wortes - gut aus der Geschichte herausgekommen zu sein.
Während ich esse, folge ich den Gesprächen am Tisch. So erfahre ich, dass Wolfgang und Karin in derselben Versicherungsgesellschaft arbeiten, allerdings in verschiedenen Abteilungen und Positionen. Er ist Abteilungsleiter, sie Sachbearbeiterin. Klaus hat früher im Chemiekombinat Leuna als Ingenieur gearbeitet. Dort hatte er Anna kennengelernt. Sie ist promovierte Chemikerin und hat sich auf Energiefragen spezi- alisiert.
* * *
Ich habe mein Essen beendet und will mich gerade nach den Berufen von Gabi und Günter erkundigen, als Christos, der dicke Grieche - auch ‚Frosch’ genannt - an unseren Tisch tritt. Ihn begleiten Ehefrau und Schwägerin.
Christos ist ein kleiner, fast quadratischer, schwergewichtiger und zu cholerischen Ausbrüchen neigender Frührentner. Ich habe mehrmals erlebt, wie er einem Vulkanausbruch gleich, die Restaurantbedienungen wegen irgendwelcher Kleinigkeit zusammengefaltet hat.
Sein breites Gesicht, die Hängebacken und die hervorquellenden Augen erinnern mich eher an einen großen Boxerhund, als an einen Frosch. Vielleicht sind es seine kurzen, sehr krummen und dünnen Beine, die ihm den Namen Frosch bei den Griechen eingebracht haben.
Ein schmaler Haarkranz ziert seinen Kopf. Die flache Stirn erstreckt sich weit über das Schädeldach.
Ich weiß, dass sein gewaltiger Bauch in einer großen Überwurffalte gut eine Handbreit über den Bund seiner Shorts hängt. Jetzt kann ich dies nur erahnen, weil er ein blassfarbenes, kurzärmliges Hemd über den Shorts trägt.
Fast jeden Tag kann man Christos am Strand oder in der Taverne treffen. Dort ist er bereits von Weitem wegen seines besonderen Sitzplatzes leicht auszumachen. Er hat ein Klappstühlchen ins seichte Wasser gestellt, seinen breiten Hintern in den schmalen Sitz gezwängt und lässt seine Füße von der
Brandung umspülen. Am Ende meines Urlaubs verabschieden wir uns stets mit einer innigen Umarmung. Dabei fängt er jedes Mal an zu weinen, weil er davon überzeugt ist, dass wir uns, seiner Herz-krankheit wegen, nun das letzte Mal gesehen haben. Seine Abschiedstrauer - vielleicht auch Selbstmitleid - ist echt, und sie rührt mich jedes Mal aufs Neue, nun schon seit mehr als fünfzehn Jahren.
Ich finde unsere Freundschaft vor allem deshalb bemerkenswert, weil ich mit ihm noch nie einen vollständigen Satz gewechselt habe. Einige Male haben wir mit der Übersetzungshilfe anderer ein paar Lebensdaten und Freundlichkeiten ausgetauscht. Ich weiß kaum etwas über ihn und er nicht viel über mich. Aber jedes Mal, wenn wir uns sehen, spüre ich echte Herzlichkeit und Zuwendung. Was macht eigentlich diese Freundschaft aus? Wohl kaum der intensive Gedankenaustausch.
Die beiden Damen in seiner Begleitung sind sich sehr ähnlich, kaum voneinander zu unterscheiden - hoffentlich kann er es. Ich bin stets in Sorge, die Falsche als seine Frau anzusprechen oder wenn ich sie ohne Christos Begleitung träfe, keine von beiden wieder zu erkennen. Weder Gesicht, Frisur noch Bekleidung liefern markante Unterscheidungsmerkmale. Beide tragen ähnliche, in matten Farben geblümte Kleider, die mich an Kittelschürzen erinnern. Beide Damen sind schon auffällig unauffällig.
Man heißt mich herzlich willkommen. Ich stehe auf, ergreife mit einer kleinen Verbeugung die ausgestreckte Hand derer, die ich als Christos Frau identifiziere, weil sie dicht hinter ihm folgt, dann die Hand der Schwester. Schließlich umarme ich Christos und sage ein paar Höflichkeiten auf Griechisch. Ich erhalte Wünsche für eine gute Zeit hier am Ort.
Nun setzt eine unfreiwillige, ausufernde Massenbegrüßung ein. Ursache dafür ist die Fehleinschätzung von Madame Christos, dass der junge Mann neben mir mein Sohn und die neben ihm sitzende Anna meine Ehefrau sei. Sie reicht erst Anna, dann dem artig aufstehenden Sohn die Hand. Aus Gründen der Höflichkeit kann sie es dabei aber nicht bewenden lassen und fährt mit dem Händeschütteln bei den anderen fort. Dies zwingt nun auch ihre Schwester und Christos, alle auf diese Weise zu begrüßen. Das wäre problemlos, wenn der für einen Begrüßungsrundgang notwendige Platz zur Verfügung stünde. Den aber bietet unser Ecktisch nicht. Damit ist ein geordnetes ‚Einer-Nach-Dem-Anderen’ nicht möglich. So müssen die Begrüßenden an den freien Seiten des Tisches bleiben, sich vornüber beugen, um die Hände der dort Sitzenden zu schütteln. Die Abfolge der Begrüßung klappt ebenfalls nicht reibungslos. Madame Christos begrüßt die Leute nacheinander und beginnt ihre Runde von links nach rechts. Christo aber startet andersherum und begrüßt die Damen zuerst. So muss er die Begrüßung der von ihm ausgelassenen Herren, quasi im Rückwärtsgang, nachholen. Mancher, der von ihm Ausgelassenen, ist dann aber gerade von seiner Frau oder Schwägerin ‚belegt’. Die Schwägerin hat kein erkennbares Ordnungsprinzip. Sie greift nach allem, was sich ihr entgegenstreckt. Der Überblick, wer wen bereits begrüßt hat - falls er jemals vorhanden war - ist schnell verloren.
Ähnliche Situationen kenne ich von Sylvesterfeiern. Wenn um Mitternacht mit einem Glas Sekt angestoßen wird, wächst mit der Größe der Gästegruppe die Wahrscheinlichkeit, jemand beim Zuprosten ausgelassen zu haben: „Haben wir schon angestoßen?“, wird dann meist gefragt. Das funktioniert problemlos, wenn alle die gleiche Sprache sprechen. In unserer Situation fehlt dieses Hilfsmittel jedoch. Um Auslassungen zu vermeiden, begrüßt man sich deshalb eben mehrmals.
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