Anna war sicher, dass ein erster Teil des Lebenslaufes der Großmutter existierte. Dunkel erinnerte sie sich an einige Bilder aus der Kindheit der Großmutter. Der Lebenslauf war lange verschollen, dann nach einigen Umzügen wieder aufgetaucht. Doch bevor die Mutter ihn Anna aushändigte, hatte sie ihn wieder verlegt. Anna durchwühlte den Truheninhalt, fand aber nichts.
Statt dessen stieß sie auf ein ihr bisher unbekanntes, von Kinderhand umstochenes Heftehen. blätterte in ihm und lächelte. Die Mutter, zuweilen auch der Vater, hatten einige Zeit ein Tagebuch über ihren Erstling Anna geführt. Die genaue Geburtsstunde war vermerkt. Nie kommen die Kinder bei Ebbe , immer bei Flut, hatte die Mutter den Vater einmal belehrt. Gewicht, Größe, Kopfumfang notiert. Schwierigkeiten der ersten vier Wochen, nicht verheilende Geschwüre an den Beinen. Anna schreit Tag und Nacht. Eine Eintragung zum Tauftag:
16. Juni. Trinitatis-Sonntag. Großvater Krögers 10. Todestag. Unvergesslich schöner Tag, trotz ungewisser Witterung. Tante H. W. der einzige Gast. Bruder Pastor B. tauft über der Geburtstagslosung. Nur Mückelchen (Wurm!) schreit, schreit. Mutter will versinken vor Scham. Während Tante H. singt: Geh aus mein Herz! wird sie plötzlich still.
Jede Entwicklungsstufe war sorgfältig eingetragen. Die Mahlzeitenfolge. 3 x Brust und 1 x Brei. Um 18 Uhr zuletzt. Das freie Sitzen . Über die Reise von Bremerhaven nach Gottshut schrieb der Vater: Schwer bepackt, unser Kleinchen in einer Art selbst gefertigten großen Einkaufstasche, reisten wir am 17.10.46 ab. Bremerhaven - Friedland - Halle. In Halle, wo wir stundenlang standen, ereilte uns alle ein großer Schreck. Das Stellwerk hatte versehentlich einen Güterwagen in voller Fahrt auf unseren Zug, in dessen letztem Wagen wir saßen, auffahren lassen. Alles Gepäck stürzte herunter. Eine Zentnerkiste war auf die Bank gefallen, auf der ich sonst saß und zeitweilig Mückelchen stand. Ich aber hatte mich gerade aus irgendeinem Grund erhoben, und unser Kleinchen war auf der gegenüberliegenden Bank abgestellt. Nur Anna blieb bester Laune. Sie hat die Reise am besten überstanden und war während der ganzen Fahrt von einer fast rührenden Bravheit, lachte jeden an, krakelte immerzu stillvergnügt vor sich hin und amüsierte sich prächtig.
Weihnachten in Gottshut. Wann sie zum ersten Mal das Wort Mutter sagte. Ihre beliebteste Schlafhaltung: Mit angezogenen Beinen lag sie auf Brust, Bauch und Unterschenkeln. Freihändiges Stehen. Selbständiges Laufen. Töpfchenerfolge . Im März 1948, kurz vor ihrem zweiten Geburtstag, wurde sie in den Kindergarten gegeben. Überrascht las Anna diese letzte Notiz im Heftchen. Sicher auch für Gottshuter Verhältnisse damals ungewöhnlich, ein zweijähriges Kind der Obhut des Kindergartens zu überlassen. Ein erster Hinweis dafür, dass Anna nach der Geburt ihrer Schwester Mechthild zu anstrengend wurde?
Anna nahm den Ordner mit den Briefen aus den ersten Ehejahren der Eltern zur Hand. In den Briefen an Verwandte, Paten schrieben die Eltern von Annas Geschicklichkeit und erfreulicher Intelligenz, einem nicht zu sättigenden Zärtlichkeitsbedürfnis. Durch Küsse sei sie rasch zu beschwichtigen. Immer wieder erwähnt wurde ihr Eigensinn (Weder gutes Zureden noch schlimmste Prügel helfen.) , ihre Stimmungslabilität.
Ein Stimmungsmensch, schrieb der Vater, sehr bewusst, versteht fast alles. Im Spielen und Wesen sehr originell und beliebt bei groß und klein. Aber sie bleibt sich gleich. Erziehungserfolge sind leider keine anzumelden.
Wie der Vater an Anna hing, ging aus einem Brief hervor, den er an die im Westen zur Kur weilende Mutter schrieb. Er nannte sie ein Sonnenscheinchen , mein kleiner, drolliger Kamerad . Die letzten Briefe vom Sommer 1949. Dann begann die Ausbildung des Vaters im Predigerseminar. Das Familienleben rückte in den Hintergrund.
Wahrscheinlich hat es den Eltern nicht an Liebe gefehlt, dachte Anna. Nur an Kraft und Vermögen, sie umzusetzen. Sie haben viele Reaktionen falsch gedeutet, zu schnell waren sie in ihrem Urteil. Anna bewahrte viele glückliche Augenblicke ihrer Kindheit im Gedächtnis. Doch überwiegend war das Gefühl von Kränkung, dass ihr unrecht getan worden sei.
Anna suchte unter den Fotoalben das heraus, das sie am liebsten anschaute. Sie hatte darin ein paar Jugendfotos der Eltern eingeklebt, die ihr in die Hand gekommen waren, und alle Fotos aus der Zeit in Bremerhaven und Gottshut. Auf dem ersten Foto mochte der Vater achtzehn, neunzehn Jahre sein. Der Typ eines nordischen Eroberers: helläugig, braun gebrannt, die blonden, leicht gewellten Haare nach hinten gekämmt, die Augenbrauenbögen traten hervor, schmale Hakennase, starke Kinnbacken, die Lippen locker aufliegend und geschwungen. So einen Jungen konnte man formen. Anna war unbehaglich, nicht nur des glänzenden Symbols wegen auf der Uniformbluse: auffliegender Adler, in seinen Krallen den mit einem Hakenkreuz gezeichneten Erdball.
Vier, fünf Jahre später die Eltern kurz vor oder nach ihrer Trauung 1943: Der Vater, blass, kindlich staunend, neigte den Kopf seiner jungen Frau zu. Die Mutter blond wie der Vater, die langen, gekrausten Haare gaben die schöne Stirn frei, offene helle Augen, eine lange, gerade Nase, der breite Mund leicht geöffnet, ausgeformte Jochbögen, schmales Kinn. Der mädchenhaft schlanke Körper, im selbst gestrickten eng anliegenden Rollkragenpullover gut sichtbar, schmiegte sich an die feste Matrosenjacke an. Unglaubwürdig, dass sie fünfeinhalb Jahre älter als Annas Vater war.
Anna kam kaum von diesem Foto los. Zum ersten Mal entdeckte sie sich nicht nur in der Mutter, sondern auch in diesem jugendlichen Vater.
Chronologisch geordnet Fotos vom weiteren Verlauf der Ehe. Fasching. Aufnahmen am Strand. Elegant, an einen schönen alten Kachelofen gelehnt, die Mutter. Der Vater pfeiferauchend auf einem Sofa. Der kindliche Ausdruck war einem männlich-ironischen gewichen. Wieder ein Strandfoto: 14. Juli 1946 stand darunter. Zwei Ehepaare, eines davon die Eltern, mit ihren Kindern. Die Mutter hatte nur einen Blick für ihren Säugling, das winzige Etwas, das sie im Arm hielt: Anna.
In Gottshut angekommen, ging die Mutter Ende November 1946 sogleich mit ihrer halbjährigen Tochter zum Gottshuter Fotografen Holan, der sämtliche wichtigen Ereignisse nicht nur im Leben der Eltern, sondern aller Gottshuter festhielt.
Drei Varianten vom dicken Baby Anna mit und ohne Mützchen. Die Mutter trug ein zum Turban gebundenes Kopftuch.
Ab 1947 kam Annas Schwester Mechthild mit ins Bild. 1950 erschien Erdmuthe als Täufling auf einem Foto mit den Eltern. Der Vater ernst, müde. Die Mutter dagegen völlig ihrem erneuten Mutterglück hingegeben.
Ein Foto vom Sommer 1950: Auf einem Wäscheplan hinter dem Haus. Ein dickes, halbjähriges Baby ruhte auf Annas Schultern. Die Vierjährige stand wie Christophorus unter der Last gebeugt, tapfer lächelnd, den Blick vor Anstrengung auf den Rasen zu ihren Füßen gerichtet. Über ihrem Kleid baumelte ein runder, gehäkelter Taschentuchbehälter. Die Mutter hinter Anna hatte das Baby unter den Achseln fest im Griff, prüfte Annas Belastbarkeit, hielt ihr Gesicht an das des Babys. Neben der Mutter der Vater, die Haare glatt zurückgekämmt, müde das Gesicht, abgehärmt. Mit der einen Hand berührte er die Schulter der mittleren der drei Schwestern. Mechthild stand X-beinig, pummlig vor ihm, griff dem Vater ans Hosenbein, die andere Hand reichte sie vertrauensvoll zu ihm herauf und sah zu dem Baby auf Annas Schultern.
Im Januar 1951 wanderte die Familie noch einmal zum Fotografen Holan. Es war das vorläufig letzte Foto, das Anna mit ihren Eltern und Schwestern zeigte. Ihre Abreise nach Rosenstetten im Schwarzwald, wo eine Cousine der Mutter ein Kinderheim führte, wahrscheinlich schon beschlossene Sache.
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