»Aber sicher, so machen wir das«, quetschte er etwas gequält hervor und grinste, forschte währenddessen in den Augen von Jules. Dieser hielt seinem Blick nicht lange stand und er wandte sich unschlüssig ab. »Okay. Bis zum Mittagessen hab ich noch ein paar Dinge zu erledigen. Geht zwei Uhr für dich in Ordnung?«
Chufu nickte und Jules verschwand im Flur, ging ihn entlang in sein Büro, öffnete und schloss die Türe. Gebannt blickte Alabima auf Chufu.
»Und?«
»Für eine Diagnose ist es noch viel zu früh«, wehrte Chufu sogleich ab, »weißt du, Labi, je nachdem, wie du die Grenzen ziehst, werden entweder zwei Prozent oder achtzig Prozent der Menschheit von Psychosen geplagt. Meiner Meinung nach entwickelt sich die Psychologie immer mehr zu einem Massengeschäft, zu einem neuen Geschäftsmodell, in dem allzu leichtfertig Menschen in Schubladen gesteckt werden, die mit Abnormitäten beschriften sind, die es selbstverständlich zu therapieren gilt. Doch oft wird erst mit dem andauernden Hinterfragen einer gewissen Abweichung von irgendeiner meist willkürlich gesetzten Norm eine Neurose oder gar Psychose auch ausgelöst.«
Alabima nickte, verstand Chufus Bedenken.
»Jules ist dein Vater. Deine Zurückhaltung ihm gegenüber ist und auch nobel. Beobachte ihn in den nächsten Tagen, mach dir ein Bild über seinen Zustand. Doch nun muss ich endlich in die Küche. Hilfst du mir beim Rüsten des Gemüses?«
Jules war im Flur stehen geblieben, hatte jedes Wort ihrer Unterhaltung mitgehört. Nun drückte er rasch die Bürotür auf, ließ sie nur einen Spalt weit aufschwingen, schlüpfte hindurch und schloss sie ebenso lautlos hinter sich. Keuchend verharrte er, lehnte sich erschöpft mit dem Rücken an das Türblatt. Sein Oberkörper zuckte, seine Finger zitterten und seine Augen waren weit geöffnet, starrten erschrocken und verwirrt.
*
Walid Gomaa trat aus dem Justizpalast und sein Gesicht verriet zwei sehr unterschiedliche Gemütsverfassungen. Da war als erstes die Antwortlosigkeit, die Machtlosigkeit, die Ich-weiß-nicht-mehr-weiter-Regung zu erkennen, mit blassen, unstet umherirrenden Augen und einem Mund, der zum dünnen Strich zusammengekniffen war. Aber immer wieder, nur ganz kurz, blitzte es in seinem Gesicht gefährlich auf, zeigte eine wilde Wut und einen lodernden Zorn in seiner Brust, geboren aus der Angst um seine Tochter Malika und aus seiner augenblicklichen Hilflosigkeit, ihr Schicksal zu enträtseln. In diesen Minuten fühlte er in sich die zerstörerische Kraft eines Wahnsinnigen, der vor dem Schaltpult sitzt und den letzten Knopf bedenkenlos drücken würde, wenn er ihn doch nur hätte finden können.
Der Justizminister hatte ihn erst auf einen der nächsten Tage vertrösten wollen, ihn jedoch heute Nachmittag doch noch empfangen. Seine jahrzehntelangen guten Beziehungen zu hohen Vertretern der früheren Regierung hatten Walid noch einmal die Türen aufgestoßen Doch Mohammed al-Bashi hatte ihn äußerst kühl empfangen, ja abweisend begrüßt, hatte ihn auch behandelt wie einen kleinen Bittsteller, der ein Almosen verlangte.
Du überhebliches Arschloch , dachte Walid angewidert, Volksvertreter nennst du dich. Doch in Wahrheit bist du bloß ein Wichtigtuer und Kleingeist, ein furchtsames Männchen, das seinen Aufstieg einzig seiner mangelnden Tatkraft und der fehlenden Kompetenz seiner Vorgesetzten zu verdanken hat und seinem hündisch ergebenen Parteigehorsam.
Unwillkürlich spuckte Walid auf den Gehsteig vor sich aus. Zwei ihm entgegenkommende Männer blickten ihn irritiert an, wichen ihm aus, während er stehengeblieben war und sich mit der Hand über Mund und Kinn streifte.
Walid Gomaa eilte weite, sah eine lange Zeit weder nach rechts noch nach links, konnte keinen klaren Gedanken fassen, sah auch niemanden bewusst an, erkannte auch keinen. Plötzlich blieb er jedoch stehen, überraschte damit einen Passanten hinter ihm, der auflief, kurz fluchte und dann weiter eilte. Walid sah sich um, orientierte sich und erkannte den Ort, an dem er stand. Rasch querte er die Talaad Harb, trat zwischen die Häuserreihen in einen schmalen Hinterhof, auf dem sich die kleinen Tische einer Bar drängten, setzte sich müde auf einen freien Stuhl. Er bestellte sich einen Tee und die Pfeife, bekam beides rasch gebracht. Das Mundstück war noch feucht von den Lippen des Jungen, der sie ihm vorbereitet und angezündet hatte. Walid störte sich nicht daran. Genüsslich sog er den kalten, höchst aromatischen Rauch in seine Lungen, ließ ihn lange darin ruhen, stieß ihn nur langsam aus, nippte zwischendurch am heißen Tee, kam innerlich endlich etwas zur Ruhe. Allerdings einer gefährlichen Ruhe, denn seine Gedanken kreisten ständig und immer schneller um all die Möglichkeiten, die ihm noch blieben.
Minister al-Bashi hatte ihm ohne Interesse zugehört, danach ein kurzes Telefonat geführt und ihm dann schlichtweg mitgeteilt, Malika wäre nicht in staatlichem Gewahrsam und er könnte nichts für ihn tun. Und dann hatte er ihn auch noch verhöhnt, der Bastard, warum sich seine unverheiratete Tochter des Nachts eigentlich auf den Straßen der Hauptstadt herumtriebe? Was für eine Sorte von Mädchen sie wohl wäre? Ob die Familie Gomaa vielleicht etwas zu westlich geprägt wäre und sich darum falsche und gefährliche Ideen in den Köpfen der Kinder festgesetzt hätten?
Nein, von diesem Mann konnte Walid keine ehrliche Unterstützung erwarten.
Sollte er Mehmed Tessa einschalten? Der Gesundheitsminister war ihm viele Jahre lang ein guter Freund gewesen, übte auch in der neu strukturierten Übergangsregierung einigen Einfluss aus, kannte vielleicht eine Hintertür zum Geheimdienst?
Walid griff zu Telefon, suchte sich die Nummer aus dem Speicher heraus und drückte den Knopf für die Verbindung. Es klingelte. Mehrmals. Dann schaltete sich die Mailbox ein. Walid begrüßte kurz seinen Freund und Vorgesetzten, bat ihn um baldigen Rückruf.
Der Tee schmeckte ihm plötzlich bitter und er rührte einen weiteren Löffel Zucker hinein, fischte auch den Pfeffermünzzweig heraus, warf ihn neben dem Tisch auf den Boden.
Der Einheizer kam an seinem Tisch vorbei, füllte Tabak nach und ersetzte das Kohlestückchen, ging einen Platz weiter. Walid bekam dies nur am Rande mit, war längst wieder in seinen Gedankengängen versunken.
Wen kenne ich beim Militär? , stellte er sich die entscheidende Frage, das Militär hält doch alle Fäden in der Hand? Sie beherrschen bestimmt auch den Geheimdienst, die offizielle Polizei und die angeheuerten Schlägertruppen. Doch wen kenne ich dort? Wen mit Einfluss?
Er erinnerte sich an einen Oberstleutnant, den er vor wenigen Monaten auf der Hochzeit einer Nichte getroffen und mit dem er einige Sätze geplaudert hatte. Wie war bloß sein Name. Nespherti?, Nespherta? Walid verfluchte einmal mehr sein schlechtes Namensgedächtnis. Ja, Gesichter hatte er sich schon immer leicht merken können, schon als kleiner Junge. Und so sah er den etwa fünfzigjährigen, besonnen wirkenden Militär mit dem dunklen, perfekt gestutzten, von grauen Fäden durchzogenen Schnauzbart und dem gewinnenden, angenehmen Lächeln in Gedanken wieder vor sich. Nepherte, schoss es ihm durch den Kopf, Amjad Labib Nepherte, Kommandant der Wüstenbrigade zwölf, stationiert im Wadi Bashrein in der Nähe der Stadt El Salloum, direkt an der libyschen Grenze. Der Ort lag zwar weit entfernt von Kairo, mehr als sechshundert Kilometer. Doch wer wusste schon, wohin es einen Angehörigen des Militärs während einer Revolution trieb? Dieser Nepherte war jedenfalls eine echte Persönlichkeit, ein Mann der Tat, schien auch über gute Kontakte in die höchsten Kreise zu verfügen. Ein Versuch war er auf jeden Fall wert. Doch wie kam er an seine Telefonnummer heran?
Wieder ging Walid seinen Bekanntenkreis durch, strich einen nach dem andern von der Liste in seinem Kopf, bis keiner mehr übriggeblieben war.
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