„Ich will zurück“, sagte sie fordernd.
Anoo ging kein Risiko ein und ruderte vorsichtig zum Steg. „Immerhin hast du nun mal wieder eine Bootsfahrt gemacht. Das kommt dir bestimmt zu Gute, wenn du in Europa einen Fluss überqueren musst.“
„Was, du gehst nach Europa?“ schrie sie.
Er hielt den rechten Zeigefinger vor den Mund. „Pst. Wir gehen nach Europa.“
„Glaubst du daran? Wie lange ist man da unterwegs?“
„Tage. Mit Zwischenaufenthalten, Wochen.“
Im Land der Wutakees gab es keine Sonnenaufgänge, denn die fanden hinter einem mächtigen Vulkankegel statt. Irgendwann im Laufe des Morgens war die Sonne, wenn sie schien, auf einmal da. Je nach Jahreszeit früher oder später. Im Hochsommer dauerte es besonders lange, weil dann das Gestirn die ganze Höhe des Kegels auskostete. Im Gegensatz zu anderen Vulkanen der Nordinsel war dieser kaum aktiv. Die Farmer konnten die fruchtbaren Vulkanböden nutzen, ohne vor einem Ausbruch Angst zu haben. Diesen hohen Berg wollten Landis und Anoo, quasi als Krönung ihres gemeinsamen Urlaubs, besteigen. Sie steckten Trinken, Essen und ein Toky ein und fuhren mit dem Geländemotorrad den Berg hinauf soweit es ging. Das Krad ließen sie bei einer Hütte stehen und wanderten auf uralten Pfaden weiter. Unter ihnen lagen die endlos vielen Baum-Quadrate, die Farmgebäude der Familien, Lupinenfelder und der hier inselfreie Ozean. Das Pärchen ärgerte sich gerade über aufziehende Wolken, als Anoos Toky piepste.
Das Toky war das Funkgerät für unterwegs. Es war rund, schwer, länger als eine Hand und lag auch gut darin. Wer sich eines leisten konnte, hatte an seiner Hose eine spezielle Außentasche, um damit anzugeben. Dieses Gerät war das Höchste an Erfindung, was die Südländer bislang hervorgebracht hatten. Anoo griff in seine Außentasche und nahm das Toky heraus, der Anrufer war Landis Mutter Belta. Er reichte das Gerät weiter, Landis stellte lauter, hielt es mit beiden Händen vor sich und grüßte brav ihre Mutter. „Dein Institut hat hier angerufen“, begann Frau Sinada das Gespräch. „Die Regierung hat dich für eine Reise nach Europa ausgewählt.“ Ihre Frage „Wusstest du davon?“ ging im Jubel des Paares unter. Landis umschlang Anoo, sie drückten und küssten sich leidenschaftlich, beiden war eine große Last genommen.
„Ich glaube, ich habe soeben erfahren, dass ihr Beide nach Europa geht. Wo seid ihr eigentlich?“ hörten sie Belta.
„Wir stehen auf einem Vulkan und genießen jetzt schon die weite Welt“, rief sie über das Toky hinweg in die Weite hinaus.
„Bevor du für lange Zeit entschwindest, hätten wir dich gerne zuhause. Du darfst auch gerne Anoo mitbringen“, setzte sie noch säuerlich hinzu. Sie wusste von Schakos Abneigung ihrer Familie gegenüber.
„Darf Koa auch mit nach Europa?“ fragte Anoo dazwischen.
Die Alte holte Luft. „Der hat keine Nachricht erhalten. Wir würden auch ungerne beide Kinder verlieren.“
Landis schnaubte. „Mama, mach bloß kein Drama draus. In der Regel kommen alle wieder zurück, wenn sie keine Dummheiten machen.“
„Deshalb ist es besser wenn Koa hier bleibt“, meinte ihre Mutter.
„Da habt ihr doch bestimmt dran gedreht“, sagte Landis in anklagendem Ton. „Vermutlich werde ich mit einem riesigen Fest verabschiedet und mein Bruder muss mit langem Gesicht zuschauen.“ Die Mutter antwortete nichts. „Also gut, wir kommen sobald wir können“, beendete die Tochter das Gespräch.
In der Zwischenzeit hatte sich der Himmel weiter verdunkelt. „Es ist besser, wenn wir zurückgehen. Im strömenden Regen auf einem Berg zu stehen ist nicht besonders erhebend“, meinte Anoo und sie machten sich an den Abstieg. Nach dem Abendessen feierten sie mit Rotwein, erzählten davon, was sie alles entdecken wollten und warfen sich launige und witzige Bemerkungen zu. Auch der Großvater schaute vorbei und beglückwünschte Anoo und Landis zu der Chance, als erste Südländer in Europa eine Familie zu gründen. Landis wurde tatsächlich rot, Anoo musste sie sekundenlang anschauen, dann boxte sie ihm schmerzhaft auf den Oberarm. Schako lachte und klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. Nun fühlte sie sich von den Wutakees aufgenommen.
Am Freitagmorgen der letzten Ferienwoche musste Anoos Vater wegen irgendwelcher Anträge in die Hauptstadt. Die Weltreisenden in spe nutzen die Gelegenheit, um Diensteifer vorzutäuschen und frühzeitig zu ihrem Wal zu kommen. Helster setzte sie direkt vor der Werft ab. Die Beiden ließen ihre Reisesäcke beim Pförtner stehen und schlenderten auf das Gelände. Das Werftareal beherrschten zwei riesige Hallen, Landis und Anoo sahen zuerst in die Eine, dann noch in die Andere. In beiden Hallen wurden Wale montiert - neue, nicht ihrer. Hinter den Hallen standen unübersichtlich große Gerippe herum, Dutzende von Kisten in Garagengröße, Schuppen für Ersatzteile und Kräne für die Montage.
Dann wussten sie sofort, dass ihr zukünftiges Reisemittel vor ihnen stand, oder lag, oder schwebte, wie man es wollte. Die Zigarren waren soweit aufgeblasen, dass man die lustigen bunten Gemälde darauf erkennen konnte, die ehemalige Crew-Mitglieder aufgetragen hatten. Die im Grundton hellbraunen Zigarren waren sechzig Meter lang, maßen voll aufgeblasen fünfzehn Meter im Durchmesser und vier Zigarren hingen nebeneinander. Wer um das Luftfahrzeug herum ging stellte fest, dass es acht Zigarren waren, vorne vier und hinten vier. Oben, in der Mitte der Zigarren, lag fest vertäut auf einem Bambusgitter, die Solarpaneele zur Stromerzeugung. Die Rundungen der Zigarrenfront zierten aufgemalte Gesichter, die mit aufgerissenen Augen oder mit Schlitzaugen Landis und Anoo entgegen sahen. Darunter prangten weit aufgesperrte gezahnte oder grinsende Münder; runde oder spitze Ohren umrahmten die Gesichter, Runzeln und Lachfalten verfeinerten die Physiognomie. An der einen Längsseite des Wals war auf die vordere Zigarre die Vulkanlandschaft der Nordinsel gemalt, einer der Vulkane rauchte, einer eruptierte. Auf die hintere Zigarre, eine schneebedeckte Gebirgslandschaft, die nur die der Südinsel sein konnte. Über die ganze Länge der anderen Seite wanden sich bunt geringelte Schlangen, obwohl es auf den Inseln keinerlei Schlangen gab. Aus ihren aufgesperrten Rachen ragten gleich acht lange Zähne heraus. Vielleicht eine Anspielung auf die acht Zigarren.
Zusammengehalten wurden die Zigarren von einem Gestell aus gebündelten Bambusstangen. Die Forschung hatte bis dato kein besseres Material gefunden. Wenn Bambus in einem Sturm brach, hieß das noch lange nicht, dass es sich auch zerteilte. Nichts war stabiler, als dünne Bambusstangen zu bündeln und in Punkto Elastizität war Bambus unübertroffen, das richtige Material für sturmgepeitschte Konstrukte. Das Gitter das unter den Zigarren hing, war weder zusammengeschraubt, geklammert noch genietet, es war mit einheimischen Flachs zusammengebunden. Auch das hatte sich als die stabilste Konstruktion erwiesen und konnte unterwegs leicht repariert werden.
Also, die Zigarren schwebten festgebunden an einem Gitter aus leichten, langfaserigen und biegsamen Bambusstangen. Unter dem Tragegitter befanden sich vorne eine große Kabine und hinten, zwischen den Zigarrenenden, drei Elektromotoren mit Propellern. Zwischen Kabine und Motoren hingen zahlreiche Flaschenzüge, an denen vor den Reisen die garagengroßen Transportbehälter befestigt wurden. In manchen dieser Kisten schlief die Crew, in anderen befanden sich WC, Werkzeug, Baumaterial, Fertigteile für den Hausbau, oder Geländefahrzeuge. Nicht zu vergessen, Essen und Trinken. Mit den Flaschenzügen konnten die Kisten auch auf unebenem Gelände heruntergelassen werden.
Gefüllt waren die Zigarren mit Wasserstoff. Essentiell für jeden Wal war deshalb der mitgeführte Motor, der Gas nachproduzierte. Für eine Landung wurde Gas abgelassen, das man für den Start wieder nachfüllen musste. Deshalb inspizierten Anoo und Landis als erstes diesen Motor, der gleich hinter der großen Kabine hing. Die Kabine schwebte mannshoch über der Erde, eine Seitentür war geöffnet, darunter stand eine Bockleiter, um bequem einsteigen zu können. Die Beiden kletterten hinauf und sahen zuerst nach dem Gasmotor, der einen sehr gepflegten Eindruck hinterließ. Sie sahen sich in der Kabine um. Den Sitzplätzen nach war sie ein, wenn auch enger, Aufenthaltsraum für zwanzig Personen. Es gab eine Möglichkeit zum Kaffee und Tee kochen. Am mittleren Frontfenster befanden sich ein Lenkrad das das Seitenruder sowie eine Stange, die die Höhenruder bewegte. Sie sahen drei Schieber, mit denen der Antrieb beschleunigt oder gedrosselt wurde und diverse Armaturen, Knöpfe und Kontrollleuchten.
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