Hans Joachim Gorny
Wohlstand macht unbescheiden
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Wohlstand macht unbescheiden von Hans Joachim Gorny
In den menschlichen Genen fest verankert sitzt die Angst, zu kurz zu kommen. Das habe ich schon im Kindergarten festgestellt. Nun bin ich Rentner und seit meiner Kindheit hat die Welt sich erstaunlich gewandelt. Ich erlebte, wie meine Eltern, Nachbarn und Verwandte Fernseher anschafften und fahrbare Untersätze. Aus Mopeds und Motorrädern wurden Kleinwagen, dann Limousinen, schließlich SUVs. Die mir bekannten Familien legten sich immer mehr Haushaltsgeräte zu, die irgendwann mit Fernbedienung funktionierten. Heutzutage beherrschen den Haushalt mehr oder minder nützliche elektronische Geräte.
Die meisten meiner Bekannten können sich nun Fernreisen leisten, während sie in ihrer Kindheit vielleicht mal einige Wochen bei einem Onkel oder einer Tante verbringen durften. Ihre Schränke sind voller Klamotten, die sie sich schicken lassen. Einkaufen gehen kommt immer mehr aus der Mode. Selber machen auch; in den wenigsten Haushalten steht noch eine Nähmaschine oder gibt es noch eine Strickmaschine. Früher hatten unsere Mütter Kleider genäht und Pullover gestrickt. Von einem Schrank voller Schuhe konnte man in den fünfziger Jahren nur träumen. Schuhe wurden paarweise von Schuhmachern hergestellt, waren deshalb sehr teuer, meist klobig, aber robust.
Vor einem Computer sitzend seine Freizeit zu verplempern, war in meiner Kindheit jenseits aller Vorstellungen. Außerdem war freie Zeit ein seltenes Gut. Damals mussten die Normalsterblichen nach Feierabend und am Wochenende noch aufs Feld und in den Garten, die Lebensmittel baute man selber an. Die Leute hielten sich eine Kuh oder eine Sau, mehrere Milchziegen, Schafe, Hasen und Hühner. Fleisch, Wurst, Gemüse, Obst und Kartoffeln einzukaufen war unüblich, Supermärkte gab es keine, die Begüterten kauften auf dem Markt.
Wenn ich recht überlege: An verregneten Wintertagen oder in den langen Winternächten wäre so ein Computer gar nicht schlecht gewesen. Die unübersichtlich vielen Spiele hätten die dunkle Jahreszeit erheblich verkürzt.
Sowas wie das Internet hatten nicht einmal die besten Sciencefiction-Autoren auf dem Schirm. Selbst die durchgeknalltesten Fantasten konnten sich so etwas nicht vorstellen. Ohne dicke Bücher wälzen zu müssen, kann man heute Informationen und Wissen kostenlos im Netz abrufen. Auch die Stammtischbeiträge mit den hässlichen Kommentaren und giftigen Anfeindungen.
Vor den Computern fanden Plastikkarten in den Alltag. Kleine Plastikkarten machten die Moderne erst richtig spürbar. Kreditkarten, Karten von Banken, Krankenkassen, Versicherungen, Firmen, Payback-Karten und was weiß ich, was es noch alles gab. Anfangs wollten viele Leute möglichst viele Karten in ihrem Portemonnaie stecken haben, so fühlten sie sich up to date, wichtig und geschäftig. Kreditkarten hatten aber die wenigsten. Da mit der Zeit im Geldbeutel für Geld kein Platz mehr war, hat das Kartensammeln beträchtlich nachgelassen.
Seit die Menschen den Smartphones erlegen sind, ist die Welt noch mal eine andere. Die Leute gehen gebückt, voller Demut vor den Fähigkeiten ihrer Geräte. Der Homo sapiens ist zum Screen-Junky mutiert. Die heutige Bevölkerung beschäftigt sich lieber mit den digitalen Möglichkeiten, als mit ihren Mitmenschen. Sie lässt sich von Smartphones unterhalten, wird von mehr oder weniger nützlichen Informationen zugemüllt. Vereine haben Nachwuchsprobleme.
Aber weil Fernseher, Computer und Smartphones den Menschen wenig Zeit lassen, einander zuleide zu leben, ist zumindest Deutschland gewaltfreier geworden. Die Leute machen sich jetzt lieber via Internet das Leben schwer. Das strengt kaum an, mit Cyber-Mobbing kann man sich bequemer abreagieren und dabei sogar anonym bleiben. Das allerbeste an der heutigen Zeit ist aber die unbeschreibliche lange, für Geschichtsbewusste unbegreiflich lange, Friedenszeit. Ich bin noch mit Kriegsversehrten großgeworden, mit Leuten denen ein Arm, ein Bein oder beide Beine fehlten, die entstellt oder sogar blind waren. Diese Zeugen aus grausamen Kriegszeiten sind gänzlich aus der Öffentlichkeit verschwunden.
Heutzutage, über 70 Jahre nach dem 2. Weltkrieg, herrscht in Deutschland Wohlstand. Niemand muss frieren oder hungern, alle haben sauberes Wasser, alles ist immer verfügbar, das Leben ist Konsum orientiert, die Freizeitmöglichkeiten sind unerschöpflich, die ärztliche Versorgung hervorragend. Und ein großer Teil der Bevölkerung ist übergewichtig und unzufrieden.
Von klein auf interessierte mich, weshalb es so ist, wie es ist. Am meisten interessierte mich, wie die Welt funktioniert und wie die Menschen funktionieren. Schüchtern wie ich noch war, hielt ich mich oft abseits und beobachtete die Gestik, die Reaktionen und das Verhalten der Kinder, Kameraden und Erwachsenen. Und schüttelte des Öfteren ungläubig meinen Kopf, wenn ich hörte, was meine Mitmenschen so von sich gaben. Die meisten Menschen müssen immer reden, wobei sie es inhaltlich häufig nicht so genau nehmen. Vieles wird nur beiläufig erzählt, oft wird vor dem Plaudern nicht einmal nachgedacht. Leider passiert das manchmal auch mir, wonach ich mich über mich ärgere. Menschen sind auch immer neugierig; wenn ihre Neugier nicht bedient wird, bekommen sie schlechte Laune. Das hatte ich schon während meiner Grundschulzeit zu spüren bekommen, weil ich keine familiären Informationen preisgab.
In meiner 30-köpfigen Schulklasse war ich so ziemlich der Einzige, der ernsthaft am Geschichtsunterricht teilnahm. Weshalb ich eine Eins bekam. Die bekam ich auch in bildhafter Gestaltung, denn malen konnte ich wie kein Zweiter, sogar besser als meine hochintelligenten Geschwister. Auch Erdkunde, Biologie und Sport lagen mir so sehr, dass ich auch in diesen Fächern die Bestnote einheimste. Und in Religion. Aber nicht, weil ich mich religiös gab, nein, einfach nur deshalb, weil ich im Unterricht Faxen frei mitmachte ohne die Religionslehrerin zu ärgern. In den Hauptfächern dagegen ließ ich mich hängen, da war ich nur Mittelmaß. Quälte mich durch Physik, Mathe und Deutsch. Der fleißigste Hausaufgaben-Abschreiber der Klasse war ich.
Im Nachhinein denke ich, dass die meisten meiner Klassenkameraden für Gymnasium und Studium genetisch einfach noch nicht reif waren. Da fehlten noch ein, zwei Generationen Zivilisation. Das zeigte sich auch als sie Auto fuhren, jeder musste demonstrieren wie gut er es konnte. So leichtsinnig wie damals fahren heute nur noch von Wenige (Ausnahmen gibt es bei allem, immer und überall.)
Vom Charakter her bin ich meinen Eltern wenig ähnlich; eher dem Großvater mütterlicherseits, der ein cleverer Handwerker war, aber leider früh verstarb. Zu meiner eigenen und aller Überraschung wurde ich als Klassenbester aus der Hauptschule entlassen. Bei der Abschiedsfeier glänzten meine Eltern durch Abwesenheit. In den niederen Gestaden der Volksschule hatten sie sich nie blicken lassen, denn mein sieben Jahre älterer Bruder Franz und meine fünf Jahre ältere Schwester Katharina hatten sich beide mit einem Einser Abitur hervorgetan, was auch meinen Eltern, die meine Geschwister dahin getrieben hatten, Anerkennung brachte.
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