Für die Silvesterfeier, bei der die ganze Sippschaft zusammenkam, räumte Anoos Vater Helster seine Geräte- und Fahrzeughalle aus. Eine Zugmaschine rangierte einen Anhänger voller Klapp-Tische und Bänke hinein, die zu einem riesigen U aufgestellt wurden. Das war der Alkoholbereich für die Erwachsenen. Für die Kinder wurden an den Wänden entlang Tische und Bänke aneinandergereiht. Es war jedes Mal ein freudiges Ereignis, wenn ein Achtzehnjähriger erstmals an das U der Erwachsenen wechseln durfte. Jeder meinte es gut mit ihm und wollte ihn betrunken machen. Innerhalb des U wurden auch Tische aufgestellt, draußen vor der Halle ein bestimmt vier Meter langer Grill aufgebaut.
In der Mitte der Stirnseite saß Großvater Schako. Auf die Tische innerhalb des U wurden, auf große Platten gehäuft, die Speisen gestellt. Jeder konnte mit seinem Teller hingehen und sich aufladen was er begehrte. Auf diese Weise konnte der Großvater jeden seiner Verwandten begutachten und ihn zu einem Gespräch herzitieren. Auch der Alte war überdurchschnittlich groß, viele dachten, er sei Tairiris Bruder, was Schako aber vehement bestritt. Er sei durch und durch Realist und hätte mit Schamanen nichts an der Wolle. Von seiner Größe vererbte er an seine Nachfahren allerdings nichts. Annos Vater Helster, die Onkel und Tanten sowie deren Kinder, waren alle durchschnittlich groß. Links und rechts des Alten saßen seine vier Söhne und fünf Töchter mit ihren Gattinnen und Gatten, weiter weg auch noch Verwandte der Eingeheirateten, dann die über achtzehnjährige Jugend. Annähernd achtzig Erwachsene und hundertdreißig Kinder, die südländischen Familien waren kinderreich, die fast alle auf dem Farmland lebten, mussten gesättigt werden.
Von diesen unübersichtlich vielen Enkelkindern war Anoo des Großvaters Liebling, was der zwar nicht zeigte, aber jeder wusste. Auch Anoo. Dagegen konnte der Alte Anoos Freundin Landis nicht leiden, was er auch nicht zeigte, aber er hatte etwas gegen ihre Eltern. Der Großvater lebte in Anoos Elternhaus, ließ Helster und Moaruna aber gewähren und mischte sich in der Regel nur bei bahnbrechenden Entscheidungen ein. So entschied der Alte zum Beispiel die Lupinen-Frage und, dass Anoo kein Farmer werden, sondern studieren sollte, damit er in die weite Welt reisen und der Sippe Vorteile verschaffen konnte. Es war ungewöhnlich, dass der Älteste von sieben Kindern die Farm verließ, Schako hätte auch einen anderen Enkel schicken können. Der Alte bevorzugte Anoo aber nicht wegen seiner Schönheit, sondern wegen seiner Intelligenz, denn Anno begriff Dinge, bei denen sich seine Verwandten schwer taten.
Anoo und Landis saßen bei den Jungen, dazu gehörten Anoos zwei Schwestern und sein Bruder Borg, der gerade achtzehn geworden war. Die anderen drei Brüder saßen noch bei den Kindern. Jeder der vorbeikam, beglückwünschte Borg, dass er nun am Tisch der Erwachsenen sitzen durfte und stieß mit ihm an. Mancher brachte auch einen Wella-Schnaps mit und fragte hinterhältig, ob er den schon vertrage. Er vertrug einige davon. Aber schon eine Stunde nach dem Essen entleerte er Speisen und Getränke oral hinter der Halle. Landis, die wie Anoo fünfundzwanzig war, unterhielt sich mit dessen jüngeren Schwestern angeregt über die Hauptstadt, Mode und Musik. Er ging hinaus und mischte sich unter die Männerwelt, die sich Bier-, Wein- und Schnaps trinkend am Grill versammelte. Nicht wenige rauchten. Bier brauen, Wein keltern, Schnaps brennen und Tabak anbauen gehörten zu den wenigen Fähigkeiten, die aus dem vergessenen Zeitalter herübergerettet wurden. Fähigkeiten, mit denen die Regierung immer haderte. „Zum Wohle der Bevölkerung versuchen wir mit viel Aufwand die Inseln giftfrei zu halten“, erklärte der Präsident immer wieder. „Und was macht die Bevölkerung? Sie macht sich mit Alkohol und Nikotin krank.“ Mehrmals debattierte das Parlament darüber, zumindest Schnapsbrennen und Tabakrauchen zu verbieten. Doch Mertens Kaloo, der weise Präsident, scheute ein Verbot. Die Neigung zur Sucht könne man nicht verbieten, argumentierte er. Mit dem Verbot von Genussmitteln würde man eine Schattenwelt erschaffen, in der die Bedürfnisse illegal bedient würden. Mit dieser Aussage stieg Kaloos Ansehen in der Bevölkerung beachtlich.
Um Mitternacht wurde das neue Jahr dreihundertzwölf gefeiert, mit Anstoßen, Umarmen, intensiven Küssen, unter den Betrunkenen mit Bierdusche. Der Neustart der Nation war nun dreihundertzwölf Jahre alt. Für Anoo begann das neue Jahr freudig, denn tags zuvor war der Wal angekommen. Auch deren Crew wollte Silvester in der Heimat feiern. Er und Landis setzten sich auf ein Geländemotorad und fuhren zu Anoos Elternhaus, um das neue Jahr im Bett zu begrüßen.
Als sie am nächsten Morgen die Treppe heruntergingen, um sich in der Küche Kaffee zu holen, saß der Großvater schon an seinem Schreibtisch und öffnete die Post der letzten Tage. Der Alte arbeitete nicht mehr, meistens ging er seiner Geschichtsforschung nach. Seine Bürotür war nur angelehnt, Anoo wollte kurz hineinschauen.
„Morgen Schako, gibt es etwas Neues aus der Geschichtsforschung?“
Mit einer Kopfbewegung winkte ihn sein Großvater herein und hielt einen Brief hoch. „Stell dir vor: Nach neusten Berechnungen stammen die Südländer von nur achtzigtausend Menschen ab.“
„Nur achtzigtausend?“ wunderte sich sein Enkel. „Sind die Leute von der Halbmondinsel mit eingerechnet?“ Auf die südlichste ihrer Inseln hatten sich in grauer Vorzeit viele Wissenschaftler und kluge Köpfe zurückgezogen. Dort wurden Tonnen von Büchern gesammelt und eingelagert, dort hatten auch viele wichtige Erfindungen überlebt, zum Beispiel die Herstellung von Solarmodulen und Elektromotoren. Und nur noch dort waren die Jahre gezählt worden. Nur schienen dabei einige hundert, wenn nicht sogar tausend Jahre verlorengegangen zu sein. Darüber wurde unter Forschern ausdauernd gestritten.
„Dort hatten, bevor es zu kalt wurde“, erklärte Schako, „bis zu fünfzehntausend Menschen überlebt. Die sind in den neusten Berechnungen mit dabei.“
Anoo war platt. „Das heißt: Die gesamte Menschheit war bis auf achtzigtausend Individuen geschrumpft. Von einst wieviel Milliarden?“
„Zehn Milliarden könnte eine realistische Zahl sein“, entgegnete der Großvater.
„Zehn Milliarden“, rief sein Enkel ungläubig aus. „Und dann sterben die wegen zu vielen Schadstoffen aus.“ Dass wegen der Schadstoffe auch viele Tiere und Pflanzen ausgestorben waren, war bei den Südländern kein Thema.
„Inzwischen ist verbürgt“, ergänzte der alte Geschichtsforscher seine Neuigkeiten, „dass die Südländer nur überlebt haben, weil die Regierung des damaligen Neuseeland frühzeitig die Inseln von der Welt abgeschottet hat. Sonst wäre es mit menschlicher Zivilisation völlig aus gewesen.“
Die Erkenntnis, die Letzten ihrer Art zu sein, drückte den Südländern aufs Gemüt. Und wieder auch nicht, denn ihnen stand konkurrenzlos die Welt offen.
„Aufklärungsflüge haben aber die Existenz anderer Menschen bewiesen, auf allen Kontinenten. Die könnten eines Tages mit uns konkurrieren“, meinte Anoo, der in Geschichte und Erdkunde auch sehr bewandert war.
„Das sind alles nur Wilde, die nicht einmal Metall kennen“, wusste der Alte. „In ganz Asien gibt es vermutlich nur wenige Tausend. Die können nur in wenigen Gebieten überleben, weil viel Land radioaktiv verseucht ist. Vermutlich leidet ihre Fruchtbarkeit darunter, denn von Radioaktivität wissen sie ja nichts.“
Radioaktivität war auch der Grund, weshalb die Südländer nicht alle Länder, die interessant erschienen, ansteuern konnten. Zum Glück war auch die Funktion des Geigerzählers überliefert worden. So konnten Pioniere vor der Erforschung eines angestrebten Landstrichs die Verstrahlung messen.
„Wenn es stimmt“, überlegte Anoo, „dass unsere Nation bald die zwanzig Millionen überschreitet, dann muss es einmal einen gewaltigen Wachstumsschub gegeben haben.“
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