„Und jetzt bringt er sich in Trance?“ fragte Landis.
Was hier vor sich ging, kannten weder Landis noch Koa, denn sie stammten von der kalten Südinsel, auf der es keine Kauris gab und wo sich die wenigen Bewohner mit Orakeln und Wahrsagerei nicht abgaben. Dafür waren die Leute aus der Kälte viel zu nüchtern. Nochmals erklärte ihnen Anoo, worauf es ankam.
„Tairiri bringt sich in Trance und lauscht dem Rauschen des heiligen Baumes. Der Baum erzählt auf diese Weise ein wenig aus der Zukunft des Bittstellers und manchmal auch von dessen Schicksal. Auf jeden Fall interpretiert Tairiri unter dem Einfluss der Kräuter das Blätterrauschen, und das kann ganz schön komplex werden. Manchmal weiß er lange Geschichten zu erzählen.“
„Du warst also schon öfters hier“, bemerkte Koa.
Anoo nickte leicht. „Ich bin schon als Kind mit meinem Vater hier gewesen. Für einen kleinen ahnungslosen Jungen war das ein fantastisches Erlebnis.“
Landis legte sich wieder auf den Boden und spähte nach oben. „Dass du an so etwas überhaupt glaubst. Und dass du dich überhaupt hier her traust, wo du doch von der Regierung bezahlt wirst.“
„Wenn Tairiri und die anderen Schamanen nicht so oft Recht hätten, würde ich auf das Orakel verzichten. Aber die heiligen Bäume scheinen nicht zu lügen.“
„Vielleicht liegt es einfach an den richtigen Drogen und er könnte die Veranstaltung auch hier unten abhalten“, lästerte Koa.
Anoo war leicht gekränkt. „Immerhin hat der Schamane meinem Vater das Leben gerettet. Als der zum zweiten Mal mit dem Schiff nach Australien sollte, hatte der Wind ihm abgeraten. Mein Vater war zuhause geblieben und das Schiff war mit Mann und Maus gesunken.“
„Und wenn das Orakel dir von der Reise deines Lebens abrät, würdest du dann zuhause bleiben?“ fragte Landis zweifelnd.
„Zumindest wäre ich absolut vorsichtig.“
Zwei Stunden lungerten sie auf der kleinen Lichtung herum, unterhielten sich gelegentlich über belangloses Zeug, fütterten einige Weka-Rallen die zufällig vorbeikamen mit Brotstückchen und sahen hin und wieder zu Tairiri hinauf, ob sich die Blätter bewegten. Nichts tat sich, der Alte schien zu schlafen. Anoo war tief enttäuscht. Die Scheine bekam er auf jeden Fall nicht mehr zurück. Vielleicht hat der Schamane einen aufschlussreichen Traum.
„Tairiri, wir müssen gehen“, rief er hinauf. Schon bis zum Fahrzeug würden sie zwei Stunden wandern müssen, in der Hauptstadt und in ihren Betten wären sie erst nach Mitternacht. Nach einigen Minuten richtete sich der Gerufene auf, er hatte es tatsächlich gehört, und machte sich an den Abstieg. Unten angekommen sagte sein Kunde: „So eine Enttäuschung, ausgerechnet heute muss die Natur schlafen. Da war wohl nichts zu erkennen.“
Der Alte räusperte sich. „Ausgerechnet heute ist es ein schöner und ruhiger Tag. Das kann man so verstehen, dass auch deine Reise schön und ruhig verlaufen wird. Wenn ich es mir genau überlege, war die Windstille sogar beabsichtigt. Sie will sagen, dass du in keinen Sturm und andere Gefahren gerätst.“
Wenig überzeugt verließen die drei Jungen die Lichtung.
Auf dem Rückweg meinte Koa noch: „Wenn ich das richtig verstanden habe, ist der heilige Baum nur der Mittler. Der Wind berichtet ihm aus der Zukunft. Das ist gefährlicher Aberglaube mein Lieber, sei froh, dass es heute windstill war.“
Die Regierung war gegen jegliche Art von Religionsausübung. Es war verboten, Religionen zu begründen und Götter, Geister und Dämonen zu verehren, denn die Menschen des Vergessenen Zeitalters sollen sich wegen Religionen und Göttern blutig bekriegt haben. Behaupteten die Altertumsforscher. Nur die Gebildeten wussten, was eine Kirche gewesen war und was Beten bedeutet, und das war auch gut so. Aberglauben und das Verbreiten von Hirngespinsten wurde mindestens mit einer Geldstrafe geahndet. Um das Orakel zu befragen, riskierte Anoo seinen Traumberuf.
Schon in der Grundschule wurde den Kindern eingebläut nur dem zu trauen, was sie mit eigenen Augen sehen können und was mit Logik nachvollziehbar war, wurde der Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit gelehrt. Die Menschen sollten nur an Greifbares und Sichtbares glauben. An die Natur zum Beispiel. An Sonne, Mond und Sterne zu glauben war daher naheliegend. Doch frühe Versuche, daraus eine Religion zu machen, wurden von der Regierung im Keim erstickt und so die Gestirne den Gläubigen verleidet. Die meisten Südländer glaubten eh lieber an die Macht des Geldes. Etwas sehr Greif- und Sichtbares.
Alle Südländer glaubten aber eisern daran, dass es mit ihrer Nation immer weiter vorangehen wird, so auch Anoo. Immer zahlreicher drängten sie in die Weiten der Welt und suchten dort nach geeigneten und giftfreien Böden, um die explodierende Nation ernähren zu können. Weltweit suchten Wissenschaftler nach Tieren und Pflanzen, die sich als Nahrung eigneten und aus denen Medikamente und Rohstoffe gewonnen werden konnten. Genauso eifrig suchten Abenteurer nach den Resten versunkener Städte, um an Metalle zu kommen oder an Informationen über das Vergessene Zeitalter . Reich wurde jeder, der ein noch lesbares Buch fand. Bücher, die nach solch einer gefühlten Ewigkeit gefunden wurden, hatten nur unter den glücklichsten Umständen überlebt. Sie mussten der Regierung verkauft werden, wurden aber oft illegal an Sammler und Industrielle abgeliefert. In jedem entdeckten Buch konnte etwas stehen, das die Nation weiterbrachte, das zu einer wichtigen Erfindung führte oder zur Aufklärung der Vergangenheit beitrug. Letztere Informationen waren am begehrtesten, denn Regierung und Bevölkerung interessierte gleichermaßen, was zur Ausrottung der Menschheit geführt hatte.
Anoo Wutakee arbeitete für die Regierung, Landis und Koa Sinada für private Wissenschaftler; Anoo hatte die Geschwister auf der Uni kennengelernt. Wer in die weite Welt geschickt werden wollte, musste die alte Schrift lesen und übersetzen können und solche Sachen wie Biologie, Geologie und Archäologie studiert haben. Alle drei hatten sich dementsprechend vorbereitet, aber nur Anoo war von der Regierung für das nächste Unternehmen fest eingeplant. Am ehesten noch, was Anoo auch zutiefst hoffte, hatte Landis eine Chance mitzukommen. Doch das hing von der Rückkehr des Wals ab, erst dann wurde entschieden, welche Leute für die neue Mission noch gebraucht würden.
Die Geschwister von der Südinsel wohnten in ihrem Institut, Anoo bei den Quarantäne-Hallen in einem Regierungswohnblock. Alles, was die Wale aus den Erdteilen mitbrachten, wurde unter Quarantäne gestellt und vor der Freigabe tage-, wochen- und manchmal monatelang nach Insekten, Pilzsporen, Bakterien und Viren abgesucht. Alles, was von außerhalb kam, machte der Nation Angst, weil es Krankheiten und Schädlinge mit ins Land bringen konnte. Nur die unter Aufsicht in fernen Landen angebauten Lebensmittel durften, wegen der Haltbarkeit, zügig auf die Inseln. In den Quarantäne-Hallen war auch Anoos Arbeitsplatz. Tagein tagaus die Einfuhren auf die immer gleiche Art und Weise zu untersuchen, war eine monotone, stinklangweilige Arbeit. Ohne die Aussicht, mit einem Wal weg zu kommen, hätte er es nicht ausgehalten. Landis und Koas Arbeit war um einiges interessanter. Sie untersuchten oft rätselhaft aussehende ausländische Pflanzen nach medizinischen Wirkstoffen, sekundär auch auf ihren Nährwert und auf Bestandteile, mit denen Kunststoffe hergestellt werden konnten. Es war zwar bekannt, wie man synthetische Kunststoffe herstellt, aber verboten. Die Regierung wollte im Land nur organische Kunststoffe, die sich problemlos entsorgen ließen. Auch da saß eine tiefe Angst, denn vermutlich hatten synthetische Kunststoffe den Niedergang der Menschheit maßgeblich mit verursacht.
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