Die Südländische Hauptstadt Tampuro lag auf der dicht besiedelten und warmen Nordinsel, auf der neun von zehn Südländer lebten. Die endlose Millionenstadt ohne Stadtgrenzen befand sich ziemlich weit im Landesinnern, in etwa dort, wo einstmals die Stadt Rotorua gelegen haben musste. Was Forscher aber erst viele Jahrzehnte nach der Stadtgründung herausgefunden hatten. Unter dem Stadtgebiet brodelte es ständig, die Hauptstadt wusste es zu nutzen. Heiße Schwefelquellen, die bisweilen einen würzigen Geruch verbreiteten, beschleunigten das Wachstum der Stadt. Das heiße Wasser lieferte billige Wärme, um Häuser, Hallen und Badewasser zu heizen. Von der ganzen Nordinsel strömten Menschen in die Hauptstadt, um in Bädern in heißem Wasser zu schwimmen. Die Elektrizität kam von den Dächern.
Die Stadt bot ein sehr gleichförmiges Bild; soweit das Auge blickte, sah es gleichhohe Wohnblocks und Geschäftshäuser. Da für den Hochbau geeignete Materialien wie zum Beispiel Stahl fehlten, blieb die Höhe der aus Ziegeln und Holz gebauten Häuser auf vier Etagen beschränkt. Alle standen dicht nebeneinander, auf manchen Parzellen befanden sich kleine Parks, deren Bäume die Fassaden hoch überragten. Die Wohnungen waren klein, denn Wohnraum war teuer, Garagen selten. Vierrädrige Fahrzeuge konnten sich nur wenige Südländer leisten, was die meist engen Straßen dankbar hinnahmen, die wurden von akkubetrieben Zweirädern aller Art beherrscht. Ein sportliches Fahrrad ohne elektrische Hilfe wollten nur wenige. Wer nun auf einem Flachdach stand und mit dem Fernglas um sich schaute, entdeckte an den Hängen der weiter entfernten Berge auch Einfamilienhäuser. Dicht an dicht klebten sie an abenteuerlich steilen Straßen. Dort wohnten die Bürger mit Geld und großen Fahrzeugen; aus dieser Bevölkerungsgruppe entstammten auch die Leute, die sich auf fremde Kontinente trauten. Das Ende der Stadt ließ sich mit dem Fernglas nicht erkennen. Nach dutzenden von Kilometern wurde die Bebauung etwas lockerer, ging kurzzeitig in kurzweiliges Farmland über, um mit den Vororten der zweiten großen Stadt, der Hafenstadt Hickten, wieder dichter zu werden. Im Bereich dieser beiden Städte tummelten sich drei Viertel der Bewohner. Einst lag die Hauptstadt an einem See, dem Tampurosee. Inzwischen lag der See aber in der Stadt und wurde von der Häusermasse schier stranguliert. An den Wochenenden wimmelte es auf ihm von Motor- und Segelbooten. Die Südländer schipperten lieber auf den Binnenseen herum als auf den Ozeanen, das offene Meer war ihnen nicht geheuer. Etwas südwestlicher lag der größte aller Seen, in den großen Ferien ein Naherholungsort für Millionen.
So sehr die Bevölkerung auf Nachrichten aus der weiten Welt gierte, so wenig traute sie sich von ihrer jeweiligen Insel. Die meisten Südländer hielt eine angeborene Urangst davon ab, die Inseln zu verlassen. Draußen in der Welt war es giftig, verseucht, gab es riesige Tiere, fleischfressende Tiere, giftige Tiere, die es in ihrer Heimat nicht gab und unbekannte Krankheiten. Bis sechzig Jahre zuvor war jedem Südländer sogar verboten, die Inseln zu verlassen. Die es taten und von der Polizei ermittelt wurden, wurden zu langjähriger Haft verurteilt. Zu groß war die Angst, dass etwas eingeschleppt wird, was den Menschen und der Ökologie schadet. Schon den Kleinkindern wurden auf drastische Weise die Gefahren der fremden Welten erklärt und ihnen wurde eingeschärft, niemals ihre Heimat zu verlassen, weil das die Existenz der letzten menschlichen Zivilisation, nämlich ihrer, zerstören könnte. Und das saß tief.
Die Inseln umgab ein fantastischer Fischreichtum, den die Südländer ignorierten, weil man zum Fang auf das unberechenbare Meer hinaus müsste. Vor der großen Hungersnot kamen nur Fische aus den sauberen Flüssen und Seen auf den Tisch. Alles aus dem Meer, auch die nahrhaften Algen, die die Not hätten lindern können, hielt man für giftig. Erst nach vielen wissenschaftlichen Untersuchungen erlaubte die strenge Regierung, auch die Meeresfrüchte aus den zahlreichen Buchten zu verzehren und linderte damit den Nahrungsmangel. Inzwischen gab es in ruhigen Buchten auch Fisch- und Algenzucht. Aber Fisch aus dem offenen Meer hatte nach wie vor Seltenheitswert. Dabei gab es unter den Inselbewohnern auch Seeleute. Mit großen, von Solarkraft angetriebenen Frachtern, fuhren sie an entfernte Gestade und brachten Laderäume voller Getreide, Holz, Fleisch und Metalle nach Hause. Die Fahrt um den Globus wagte nur eine Minderheit; diese bestand in der Regel aus Wissbegierigen, Habgierigen, Flüchtigen und Verarmten.
Als die Drei mit dem Mietfahrzeug endlich in der Hauptstadt ankamen, war es schon nach Mitternacht und Sonntag. Landis blieb gleich bei ihrem Freund, sie wollten gemeinsam aufwachen und dann Frühstücken gehen. Koa fuhr mit dem Fahrzeug zu seiner Wohnung im Institut. Am Sonntag redete das Paar wiederholt über das misslungene Orakel. Die Aussage des Schamanen sei doch positiv gewesen, meinte Landis, er könne zufrieden sein. Er müsste nochmals hingehen und sich vergewissern, meinte Anoo, bei der zweiten Windstille würde er es glauben. Landis vertrete die Augen. Es war Dezember, also Hochsommer. Im März oder April, wenn auf der nördlichen Hemisphäre der Frühling Einzug hielt, sollte die große Reise mit dem Wal starten, bei der Landis hoffentlich mit durfte. Doch der Wal ließ auf sich warten. Um ihn zu renovieren und neu auszurüsten, konnten Wochen vergehen. Nach dem Frühstück, das ein Mittagessen war, spazierten sie am See entlang. Anoo hatte bei seinen Eltern ein Motorboot liegen, mit dem er in den heimatlichen Buchten fischte. Das machte er lieber, als im elterlichen Betrieb zu helfen und Fische brachten auch Verdienst. Landis war ein richtiges Binnengewächs und überhaupt noch nie auf einer Wasserfläche gewesen. Das spielte aber keine Rolle, für ihre geplante Reise war das kein Kriterium.
Als es zu schütten anfing, flohen sie in Landis Einzimmerwohnung, die näher lag als Anoos Kammer. Sie war zwar nicht so kuschelig, aber luxuriöser, und sie hatte einen Farbempfänger. Es gab drei Sender, die alle seit einigen Jahren in Farbe strahlten. Das war Fortschritt pur. Ein Fortschritt der durch das Studium alter Bücher zustande gekommen war. Das Liebespaar war mit schwarz/weiß aufgewachsen. Die Nation interessierte sich leidenschaftlich für das Vergessene Zeitalter, dementsprechend häufig kamen zu diesem Thema Wissenssendungen.
An diesem Sonntag sendete das Zweite einen Bericht über Kriege und Waffen, Anoo war elektrisiert, stellte auf dem Projektor den Sender ein und rollte die Leinwand herunter. Abenteurer hatten in einem Land, das Indien genannt wurde, in einem riesigen Gebirge eine ausgebaute Höhle entdeckt. Darin befand sich eine leicht zu öffnende verrottete Stahltür. Unter dem verfaulten oder zu Asche zerfallenen Inventar fanden sie einen Schrank aus Edelmetall, was für sich schon eine Sensation war. Der Schrank wurde ans Licht getragen und mit Gewalt geöffnet. Die Enttäuschung der Schatzsucher war riesengroß, als sich darin nur Plastikteile befanden. Jede Art von alten Kunststoffen durfte in Südland nicht eingeführt werden, zu sehr war der Rest der Welt damit verseucht. Einer der Abenteuer schien ein bisschen wissenschaftlich gedacht zu haben, denn er hatte sich den unbedeutenden Fund genauer angeschaut. Beim Zerbröseln der Teile unter einer Lupe meinte er, Filmstreifen mit winzigen Bildern zu erkennen. Er kam zu dem Schluss, dass es sich um Mini-Mini-Filme aus dem vergessenen Zeitalter handeln musste.
So war nicht der Schrank aus unbekannter Legierung die Sensation geworden, sondern dieser Plastikmüll. Filme für Fotoapparate und Kameras kannte man, aber so winzig kleine wahrlich nicht. Was mussten die früher raffiniert gewesen sein. Und dann die Idee, lesbare Information in einem Berg zu verstecken. Das konnte nur für die Nachwelt gedacht sein, waren sich die Wissenschaftler einig. Seither wurden mit äußerster Vorsicht, damit sie nicht noch weiter zerfielen, die Teile auf Glasplatten geklebt, fotografiert und vergrößert. Bei der Schrift handelte es sich zum Glück um die Alte, die einmal die Englische genannt wurde, und nicht um irgendeine asiatische Zeichensprache. Seit Jahren saßen die Wissenschaftler daran, das Gefundene aufzubereiten, zu kompletten Texten und Bildern zusammen zu setzen, die sie in lockerer Folge der Bevölkerung präsentierten.
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