„Aber mit Sicherheit“, bestätigte Schako. „Am Tiefpunkt bei achtzigtausend weit verstreuten Menschen, war auf einmal die Unfruchtbarkeit überwunden. Die Südländer müssen Nachwuchs bekommen haben wie die Karnickel. Ich schätze mal, dass sie wegen ihrer enormen Fruchtbarkeit sehr euphorisch wurden und deshalb vor dreihundertzwölf Jahren eine Zentralregierung einrichteten. Danach kam es zu zahlreichen Städtegründungen. Und ich schätze, dass dabei auch eine effektive medizinische Versorgung eingeführt wurde.“
„Und diese enorme Fruchtbarkeit hat dann vor sechzig Jahren zur Hungersnot geführt“, stellte Anoo fest.
„Ich habe die ja erlebt. War nicht schön. Aber ich lernte, was man alles essen kann.“ Der Alte grinste. „Auf jeden Fall war die große Not das Signal, Lebensmittel auch in Australien anzubauen und Meeresfrüchte zu nutzen.“
„Und seit der Hungersnot hat sich die Bevölkerung verdoppelt. Die Familien sind immer noch sehr groß, wo soll das noch hinführen?“ Anoo schaute erwartungsvoll zu seinem Großvater.
„Deshalb brauchen wir Leute wie dich. Zieh hinaus und gründe eine Stadt. Wir Südländer besiedeln wieder die Welt.“
Über die größte Bedrohung aber redeten die Beiden nur wenn es nicht anders ging, denn diese Bedrohung war zu real, man konnte ihr nichts entgegensetzen und sie auch nicht bewältigen. Das Klima wurde zusehends kälter. Es wurde nicht gleichbleibend kälter, aber immer öfter wurde vor allem die Südinsel von empfindlichen Kälteeinbrüchen heimgesucht, die Teile der Ernten zerstörten. Wenn es im Winter frostig wurde und man Schneestürmen trotzen musste, konnte man in einem stabilen Haus mit guter Heizung überdauern. Kälteeinbrüche im Sommer jedoch schädigten Setzlinge, Getreide und Obstbäume und zerstörten Existenzen. Und sie nahmen der Nation Anbauflächen. Die Einwohner des Südens verließen ihre Insel in Scharen, dort lebten keine zwei Millionen Menschen mehr. Dass die Kälteeinbrüche keine Laune der Natur waren, zeigten die Eiskappen der Pole, die Jahr für Jahr mächtiger wurden. Die Erde ging einer neuen Eiszeit entgegen. Seit Anoos Geburt zeigte sich das auch optisch, denn der Meeresspiegel sank, nachdem er einige tausend Jahre lang gestiegen war. Die große Hafenstadt Hickten, über die das Meiste importiert wurde, bekam Schwierigkeiten mit der Wassertiefe ihres Beckens. Wenn der Spiegel weiterhin fiel, musste ein neuer Hafen gebaut werden. Oder man stieg auf Wale um, die aber lange nicht so viel transportieren konnten wie ein Frachtschiff.
Die Fläche der Nordinsel würde bei intensiver Landwirtschaft zur Versorgung der zwanzig Millionen Einwohnern ausreichen. Theoretisch. Leider waren ganze Landschaften wenig fruchtbar. Nachdem die meisten Menschen ausgestorben waren, hatten die Wälder die Insel zurück erobert. Den wenigen Überlebenden reichten für den Anbau ihrer Nahrungsmittel ein paar Lichtungen, den Rest der Insel beherrschten vor allem die Kauri-Bäume. Als die Menschen wieder mehr Anbauflächen benötigten, um die vielen neuen Mäuler satt zu bekommen, rodeten sie natürlich diese Wälder. Die Kauris lieferten bestes Holz für die Häuser und später auch für die Schiffe. Nur, dort wo Kauri-Bäume standen, blieb der Boden wenig ertragreich, die meterhohe Schicht der abgeworfenen Rinde verhinderte die Humusbildung, Mikroben konnten keine Nährstoffe herstellen.
So wurden die Flächen abgebrannt, um sie als Weideland zu nutzen. Doch es wuchs kein Gras, auf jeden Fall keines, das Tiere fressen konnten. Was kam, waren harte und scharfe Gräser, die zu nichts zu gebrauchen waren. Die landhungrige Bevölkerung brannte die Flächen Winter für Winter ab und erst nach Jahren wuchsen Gräser, die Ziegen, Schafe und Hirsche ernährten. Durch die nun üppigen Weiden vermehrten sich die freilebenden Hirsche rasant und lieferten begehrtes Fleisch. Aber die Weiden taugten nicht für den Ackerbau. Bei diesen trüben Aussichten war die Nation dazu verdammt, ihre Inseln zu verlassen. Das wusste der Großvater, den es nicht mehr treffen würde, das wusste Anoo und vor allen Dingen wussten es die Regierung und ihr Präsident Kaloo.
Anoo wusste aber nicht, weshalb er in die Welt geschickt wurde. Sollte er, wie andere Pioniere, Pflanzen, Pilze und Tiere sammeln, landwirtschaftliche Flächen erschließen oder sogar mit Anderen eine Stadt gründen? Er wusste nur, dass es nach Europa ging. Aber vorerst war noch Urlaub angesagt, während sein Wal auf Vordermann gebracht wurde. Er ging mit Landis wandern, fuhr mit ihr auf dem Sozius in der Landschaft herum, besuchte mit ihr Freunde und Bekannte und Landis war friedlich wie noch nie. „Wenn sie mit mir auf Reisen geht, wird sich das schon legen“, grinste er in sich hinein. „Dann wird sie sich wieder an Kleinigkeiten stören, damit die Gemeinsamkeit nicht allzu ruhig verläuft.“ Ihre Friedlichkeit ausnutzend, wollte er sie zu einem Angelausflug überreden, doch sie weigerte sich. Obwohl sie schwimmen konnte, war sie trotz gutem Zureden nicht auf ein Schiff oder in ein Boot zu kriegen. Jetzt konnte man sich fragen wie Landis, die ja von der Südinsel kam, es auf die Nordinsel ins Institut schaffte. Landis flog, ihre Eltern hatten Geld und konnten ihre Kinder im Flugzeug umherschicken. Was natürlich auch viel schneller ging, als auf dem Land-, dann See- und wieder Landweg in die Hauptstadt zu fahren. Es gab auch einige Fluglinien, die Reichen flogen mit Solarflugzeugen zu ihren Zielen. In Südland funktionierte das Meiste über solare Stromerzeugung. Fliegen, Fahren, Heizen, Kochen und Beleuchten wurden durch effektive Module und Stromspeicher ermöglicht.
„Möchtest du wenigsten einmal schnorcheln? Interessiert du dich dafür, wie es unter dem Wasserspiegel aussieht?“ versuchte er es auf Umwegen.
„Schwimmen in einem Becken finde ich in Ordnung, ich vertraue meinem Körper. Aber ich traue weder einem Boot, noch dem, was sich darunter abspielt“, erklärte sie unwirsch. Anoo stöhnte. Dann hatte er eine neue Idee.
„Ich habe einen Kumpel mit einem Boot, dem eine Glasplatte in den Boden eingebaut wurde. Damit kann man auf bequeme Weise die Unterwasserwelt anschauen.“ Als Landis zögerte fuhr er fort. „Das Boot liegt an einem Steg. Wir steigen einfach ein und schauen durch das Glas ohne abzulegen. Einverstanden?“ Sie nickte, kurz darauf jagten sie mit dem Motorrad zu dem besagten Kumpel. Anoo fragte erst gar nicht und strebte mit ihr gleich dem Steg zu. Er sprang in das Holz-Boot, das für mindestens zehn Touristen Platz bot und half Landis hinein. Als es dabei schwankte, riss sie angstvoll die Augen auf.
„Schau nach unten, schau durchs Glas.“ Sie bückte sich und sah kleine Fische herumschwimmen. Beide beobachteten längsgestreifte und gescheckte Fischchen. Dann kamen größere, bläuliche, mit weißem Bauch und weißen Seitenstreifen.
„Die schmecken sehr gut“, wusste er. Sie beobachteten weiter ohne zu reden. „Wenn ich jetzt hier am Ufer entlang rudere“, unterbrach er die andächtige Stille, „sieht man noch andere Fischarten, verschiedene Wasserpflanzen und vielleicht auch Krebse und Seesterne.“
Landis sah auf. „Als Kleinkind habe ich erfahren, wie unstabil so ein Boot sein kann. Ich war auf einem Boot mit fünfzehn Kindern, die Unsinn machten und das Boot zum Kentern brachten. Alle Kinder wurden gerettet, bis auf eins, das ich auch noch gut kannte. Es wurde von einem Fisch unter Wasser gerissen. Oft fühle ich im Schlaf noch das Schwanken des Bootes, bekomme ein Panikgefühl und wache davon auf.“
„Jetzt ist mir einiges klar“, versuchte Anoo verständnisvoll zu klingen. „Hast du kein Vertrauen zu mir?“ Landis antwortete nicht und sah weiterhin durchs Glas. „Ich löse jetzt die Leine und rudere am Ufer entlang und du schaust nur durchs Glas.“ Ihr Blick blieb am Glas haften, Anoo tat wie angekündigt. Nach einigen Minuten beschrieb sie was sie sah. Taschenkrebs, rote Fischchen, schlanker Seestern, weitverzweigte Wasserpflanze, große Schnecken, Braunalgen mit Fischbrut. Auf einmal schoss ein großer Fisch unter dem Boot hindurch und Landis schrie laut auf. Dabei war es nur die kleinste Delfinart die es gab, Hector-Delfine, die gerade mal einen Meter lang wurden. Das Delfinchen sprang noch kurz aus dem Wasser und war auch schon wieder weg.
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