Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt
Daniel Kehlmannwurde 1975 in München geboren und lebt in Wien. Für seine Romane und Erzählungen, die in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche Auszeich-nungen, zuletzt den Candide-Preis 2005. Sein Roman «Ich und Kaminski» wurde international zu einem großen Erfolg.
Frühere Veröffentlichungen:
Beerholms Vorstellung. Roman. 1997 Unter der Sonne. Erzählungen. 1998 Mahlers Zeit. Roman. 1999 Der fernste Ort.
Novelle. 2001 Ich und Kaminski. Roman. 2003
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machen sich zwei junge Deutsche an die Vermessung der Welt. Der eine, Alexander von Humboldt, kämpft sich durch Urwald und Steppe, befährt den Orinoko, erprobt Gifte im Selbstversuch, zählt die Kopfläuse der Eingeborenen, kriecht in Erdlöcher, besteigt Vulkane und begegnet Seeungeheuern und Menschenfressern.
Der andere, Mathematiker und Astronom Carl Friedrich Gauß., der sein Leben nicht ohne Frauen verbringen kann und doch sogar in der Hochzeitsnacht aus dem Bett springt, um eine Formel zu notieren – er beweist auch im heimischen Göttingen, daß der Raum sich krümmt. Alt, berühmt und auch ein wenig sonderbar geworden, treffen sich die beiden 1828 in Berlin. Doch kaum steigt Gauß aus seiner Kutsche, sind sie schon tief verstrickt in die politischen Wirren Deutschlands nach dem Sturz Napoleons.
Mit hintergründigem Humor beschreibt Daniel Kehlmann das Leben zweier Genies, ihre Sehnsüchte und Schwächen, ihre Gratwanderung zwischen Lächerlichkeit und Größe, Scheitern und Erfolg. «Die Vermessung der Welt» ist ein raffiniertes Spiel mit Fakten und Fiktionen, ein philosophischer Aben-teuerroman von seltener Phantasie, Kraft und Brillanz.
Daniel Kehlmann DIE
VERMESSUNG
Roman DER WELT
Rowohlt
1. Auflage September 2005
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Satz Adobe Garamond PostScript, InDesign bei Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany
ISBN 3 498 03528 2
Die
Vermessung
d
er Welt
Die
Reise
Im September 1828 verließ der größte Mathematiker des Landes zum erstenmal seit Jahren seine Heimatstadt, um am Deutschen Naturforscherkongreß in Berlin teil-zunehmen. Selbstverständlich wollte er nicht dorthin.
Monatelang hatte er sich geweigert, aber Alexander von Humboldt war hartnäckig geblieben, bis er in einem schwachen Moment und in der Hoffnung, der Tag käme nie, zugesagt hatte.
Nun also versteckte sich Professor Gauß im Bett. Als Minna ihn aufforderte aufzustehen, die Kutsche warte und der Weg sei weit, klammerte er sich ans Kissen und versuchte seine Frau zum Verschwinden zu bringen, indem er die Augen schloß. Als er sie wieder öffnete und Minna noch immer da war, nannte er sie lästig, beschränkt und das Unglück seiner späten Jahre. Da auch das nicht half, streifte er die Decke ab und setzte die Füße auf den Boden.
Grimmig und notdürftig gewaschen ging er die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer wartete sein Sohn Eugen mit gepackter Reisetasche. Als Gauß ihn sah, bekam er einen Wutanfall: Er zerbrach einen auf dem Fensterbrett stehenden Krug, stampfte mit dem Fuß und schlug um sich. Er beruhigte sich nicht einmal, als Eugen von der einen und Minna von der anderen Seite ihre Hände auf seine Schultern legten und beteuerten, man werde gut für ihn sorgen, er werde bald wieder daheim sein, es werde so schnell vorbeigehen wie ein böser Traum. Erst als seine uralte Mutter, aufgestört vom Lärm, aus ihrem Zimmer kam, ihn in die Wange kniff und fragte, wo denn ihr tapferer junge sei, faßte er sich. Ohne Herzlichkeit verabschiedete er sich von Minna; seiner Tochter und dem jüngsten Sohn strich er geistesabwesend über den Kopf.
Dann ließ er sich in die Kutsche helfen.
Die Fahrt war qualvoll. Er nannte Eugen einen Versager, nahm ihm den Knotenstock ab und stieß mit aller Kraft nach seinem Fuß. Eine Weile sah er mit gerunzelten Brauen aus dem Fenster, dann fragte er, wann seine Tochter endlich heiraten werde. Warum wolle die denn keiner, wo sei das Problem?
Eugen strich sich die langen Haare zurück, knetete mit beiden Händen seine rote Mütze und wollte nicht antworten.
Raus mit der Sprache, sagte Gauß.
Um ehrlich zu sein, sagte Eugen, die Schwester sei nicht eben hübsch.
Gauß nickte, die Antwort kam ihm plausibel vor. Er verlangte ein Buch.
Eugen gab ihm das, welches er gerade aufgeschlagen hatte: Friedrich Jahns Deutsche Turnkunst. Es war eines seiner Lieblingsbücher.
Gauß versuchte zu lesen, sah jedoch schon Sekunden später auf und beklagte sich über die neumodische Leder-federung der Kutsche; da werde einem ja noch übler, als man es gewohnt sei. Bald, erklärte er, würden Maschinen die Menschen mit der Geschwindigkeit eines abgeschos-senen Projektils von Stadt zu Stadt tragen. Dann komme man von Göttingen in einer halben Stunde nach Berlin.
Eugen wiegte zweifelnd den Kopf.
Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, daß man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.
Eugen nickte schläfrig.
Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in frühen Menschheitsalter oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne.
Er überlegte, nannte Eugen noch einmal einen Versager und widmete sich dem Buch. Während er las, starrte Eugen angestrengt aus dem Kutschenfenster, um sein vor Kränkung und Wut verzerrtes Gesicht zu verbergen.
In der Deutschen Turnkunst ging es um Gymnastik-geräte. Ausführlich beschrieb der Autor Vorrichtungen, die er sich ausgedacht hatte, damit man auf ihnen her-umklimmen könne. Eine nannte er Pferd, eine andere den Balken, wieder eine andere den Bock.
Der Kerl sei von Sinnen, sagte Gauß, öffnete das Fenster und warf das Buch hinaus.
Das sei seines gewesen, rief Eugen.
Genau so sei es ihm vorgekommen, sagte Gauß, schlief ein und wachte bis zürn abendlichen Pferdewechsel an der Grenzstation nicht mehr auf.
Während die alten Pferde ab- und neue angeschirrt wurden, aßen sie Kartoffelsuppe in einer Gastwirtschaft.
Ein dünner Mann mit langem Bart und hohlen Wangen, der einzige Gast außet ihnen, musterte sie verstohlen vom Nebentisch aus. Das Körperliche, sagte Gauß, der zu seinem Ärger von Turngeräten geträumt haue, sei wahrhaftig die Quelle aller Erniedrigung. Er habe es immer bezeichnend für Gottes bösen Humor gefunden, daß ein Geist wie seiner in einen kränklichen Körper eingesperrt sei, während ein Durchschnittskopf wie Eugen praktisch nie krank werde.
Als Kind habe er schwere Pocken gehabt, sagte Eugen.
Er habe es fast nicht überlebt. Hier sehe man noch die Narben!
Ja richtig, sagte Gauß, das habe er vergessen. Er wies auf die Postpferde vor dem Fenster. Eigentlich sei es nicht ohne Witz, daß reiche Leute für eine Reise doppelt so lange brauchten wie arme. Wer Tiere der Post verwende, könne sie nach jeder Etappe austauschen. Wer seine eigenen habe, müsse warten, bis sie sich erholt hätten.
Na und, fragte Eugen.
Natürlich, sagte Gauß, komme das einem, der nicht ans Denken gewohnt sei, selbstverständlich vor. Ebenso wie der Umstand, daß man als junger Mann einen Stock trage und als alter keinen.
Ein Student führe einen Knotenstock mit, sagte Eugen. Das sei immer so gewesen, und das werde so bleiben.
Vermutlich, sagte Gauß und lächelte.
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