Stefan Thurner - Die Zerbrechlichkeit der Welt

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Der Klimawandel schreitet voran, die Gesellschaft ist tief gespalten und der Wirtschaft droht ein Kollaps verheerenden Ausmaßes. Der Komplexitätsforscher Stefan Thurner, Berater der österreichischen Bundesregierung bei der Bekämpfung der Corona-Krise, zeigt anhand der Wissenschaft Komplexer Systeme, wie zerbrechlich die Welt geworden ist und wie wir sie mit Hilfe von Wissenschaft und Big Data doch noch zur besten aller Zeiten machen können.

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Stefan Thurner Die Zerbrechlichkeit der Welt Alle Rechte vorbehalten 2020 - фото 1

Stefan Thurner:

Die Zerbrechlichkeit der Welt

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Isabella Starowicz

Satz: Sophia Stemshorn

ISBN 978-3-99001-429-5

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

INHALT

KAPITEL 1: EINE FANTASTISCHE CHANCE

KAPITEL 2: DIE FASZINIERENDE WELT DER KOMPLEXEN SYSTEME

KAPITEL 3: DIE ZERBRECHLICHKEIT VON KOMPLEXEN SYSTEMEN

KAPITEL 4: DIE ZERBRECHLICHKEIT DES FINANZSYSTEMS

KAPITEL 5: DIE ZERBRECHLICHKEIT DES PLANETEN

KAPITEL 6: DIE ZERBRECHLICHKEIT DER ZIVILGESELLSCHAFT

KAPITEL 7: GEFANGEN IM DILEMMA ODER SCHRITTE NACH VORNE?

KAPITEL 1: EINE FANTASTISCHE CHANCE

Die Welt ist ein komplexes System, das aus vielen anderen miteinander interagierenden komplexen Systemen besteht. Die Wissenschaft beginnt, das zu verstehen. Damit könnten wir die aktuellen großen Probleme aus eigener Kraft lösen. Wir müssen es nur wollen.

Wenn wir alles über jeden und jede wüssten, was wäre dann? Was könnten wir mit diesem Wissen anfangen?

Einen Eindruck von der Antwort auf diese Frage bekam ich vor einiger Zeit, als ein genialer Mathematik-Student mein Büro betrat. Er wollte eine Dissertation schreiben und ich fragte ihn, was ihn an der Mathematik oder der Physik fasziniere. Er meinte, dass er sein Diplom zwar in Mathematik gemacht habe, dass ihn aber weder Mathematik noch Physik besonders interessieren würden. Wofür er wirklich brennen würde, seien Computerspiele. Er erzählte mir, dass er mit einem Freund Online-Spiele spiele, wann immer sie Zeit hätten.

Ich beschloss, freundlich zu bleiben, ihm noch zwei Minuten zu geben und mich dann unter irgendeinem Vorwand zu verabschieden. Indessen berichtete er weiter. Die verfügbaren Massive Multiplayer-Online-Computerspiele seien meistens relativ schlecht. Deshalb hätten sein Freund und er ein eigenes erfunden, entwickelt und online gestellt: das Pardus-Spiel. Ich fragte ihn, wie viele Menschen das spielen würden. »Nicht ganz 500.000«, antwortete er.

»Wie viele?«, fragte ich.

»Fast eine halbe Million«, sagte er.

Das Pardus-Spiel, das die beiden entwickelt hatten, ist eine Art Science-Fiction-Version unserer Welt. Die Spieler und Spielerinnen leben als Avatare in ihren Raumschiffen und Satelliten in fernen Sonnensystemen. Wer in dieser Welt landet, stellt zuerst einmal fest, dass er oder sie kein Geld hat. Man muss also arbeiten, um vernünftig leben zu können, einen Job suchen oder sein eigenes Unternehmen gründen. Avatare arbeiten und produzieren dabei als Mitarbeiter oder Unternehmerinnen die verschiedensten Güter, andere vertreiben diese und handeln mit ihnen, wieder andere kaufen und konsumieren sie. Dabei geben sie ihr verdientes Geld wieder aus, etwa für Prestige-Objekte wie schöne neue Raumschiffe oder sie investieren in neue Fabriken.

Neben dem ökonomischen gibt es im Pardus-Universum auch ein reges soziales Leben. Spieler und Spielerinnen treffen einander und interagieren miteinander. Sie kommunizieren in Chats, Foren und über private Nachrichten. Sie bilden Gruppen, nicht nur in Form von Freundschaften oder Unternehmen, sondern auch in Form von politischen Parteien, Städten oder Staaten.

Es gibt kein eigentliches Ziel des Spiels. Jede Spielerin und jeder Spieler beziehungsweise jeder Avatar muss seinen Sinn darin selbst finden und sich seine Ziele selbst stecken. Unter den Avataren gibt es Reiche und Arme, Industrielle und VagabundInnen, UnternehmerInnen und Angestellte, PolitikerInnen und Kriminelle, FührerInnen und Geführte, PräsidentInnen und EinzelgängerInnen. Es gibt auch Spieler und Spielerinnen, die sich als Piraten organisieren, und welche, die sich als Reaktion darauf organisieren, um die Piraten zu bekämpfen und loszuwerden. Eine Polizei bildete sich, genauso wie ein Justizsystem.

Es gibt sogar Avatare, die als WissenschaftlerInnen verstehen wollen, wie das Spiel funktioniert, darunter BiologInnen und PhysikerInnen. Die virtuellen BiologInnen klassifizieren die Spacemonster, die PhysikerInnen sehen sich an, wie viel Energie ihr Raumschiff verbraucht, wenn sie damit an einem Planeten vorbeifliegen, und ziehen daraus Rückschlüsse auf die Struktur des virtuellen Universums.

Ich fragte den Studenten, ob er und sein Freund die Daten, die jeder Avatar hinterließ, mitschreiben würden. Er nickte. »Etwa ein halbes Terabyte pro Halbjahr fällt an«, sagte er. »Wir schreiben alles mit. Jede einzelne Aktion.«

Die Schöpfer des Pardus-Universums wussten, wer in welcher Sekunde wo war, wer sich wie verhielt, wer sich wie mit anderen verband, wer wie mit Geld umging, wer in welcher Situation wie reagierte, wer wem etwas schenkte und wer wem etwas stahl oder sonst etwas Böses tat. Sie wussten tatsächlich alles über jeden und jede. Mir dämmerte, dass damit wahrscheinlich zum ersten Mal in der Wissenschaftsgeschichte ein kompletter Datensatz über eine menschliche Gesellschaft vorlag, auch wenn diese virtuell war. Ein Datensatz, der sich wissenschaftlich analysieren ließ. »Ich glaube, wir haben hier ein Thema für eine Dissertation«, sagte ich zu dem Studenten. Wir begannen eine lange gemeinsame Reise der Erforschung der Pardus-Welt 1. Heute ist der Student, Michael Szell, Professor an der IT-Universität in Kopenhagen.

Zunächst hatten wir eine entscheidende Frage zu klären. Ließ das Verhalten der Spieler im Pardus-Universum wirklich Rückschlüsse auf das Verhalten von Menschen in der echten Welt zu? Nur dann wäre die Arbeit mit den Daten, die diese Spieler hinterließen, auch wirklich relevant.

Das Ergebnis war eindeutig. Wir fanden heraus, dass sich die SpielerInnen in der virtuellen Welt in vielen Bereichen sehr ähnlich wie in der realen verhielten. Wir konnten zum Beispiel nachweisen, dass Freundschafts-, Kommunikations-, aber auch Handels- oder Feindschafts-Netzwerke sehr nahe an das herankamen, was man in der echten Welt beobachtet.

Wir begannen also, die Pardus-Daten systematisch auszuwerten. Eine unserer ersten Erkenntnisse war, dass Menschen gerne Beziehungsdreiecke schließen, genauso wie es Soziologen schon vor fast achtzig Jahren postuliert hatten 2. Wenn ein Mensch A etwa auf einer Party seine Freunde B und C trifft und feststellt, dass diese sich nicht kennen, wird A normalerweise B und C einander vorstellen, und sich freuen, wenn sie sich kennenlernen und anfreunden. Wir Menschen scheinen darauf programmiert zu sein, auf diese Weise Dreiecke zu schließen.

Soziale Netzwerke, die aus vielen Dreiecken bestehen, sind besonders stabil. Wenn jemand in einem Netzwerk mit vielen geschlossenen Dreiecken ausfällt, passiert nicht viel, das Netzwerk verändert sich kaum, hält weiter zusammen und »funktioniert«. Der Homo Sapiens legt Wert auf stabile soziale Netzwerke 3. Das wussten wir bereits, doch nun konnten wir es erstmals messbar machen und quantifizieren.

Bevor das Spiel im Pardus-Universum beginnt, muss jeder Spieler und jede Spielerin das Geschlecht des Avatars wählen, das sich im weiteren Verlauf nicht mehr ändern lässt. Also sahen wir uns als nächstes die Unterschiede an, wie Frauen und Männer ihre sozialen Netzwerke knüpfen. Einige Klischees bestätigten sich dabei, andere konnten wir widerlegen.

Zum Beispiel sahen wir, dass Frauen besser darin sind, Dreiecke zu schließen. Sie sind also besonders gute Netzwerkerinnen, wenn es darum geht, stabile Netzwerke zu bilden. Bei Männern sahen wir, dass sie sich besonders gerne mit Menschen vernetzen, die selbst gut vernetzt sind. In solchen Netzwerken lassen sich zwar Informationen schneller weitergeben, sie sind aber weitaus weniger stabil. Wenn in einem solchen Netzwerk ein einziger Knotenpunkt ausfällt, kann ein Teil des Netzwerks auseinanderbrechen.

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