Die zwei Männer fuhren nochmals zum Wald, fällten einen Baum, zerteilten und befestigten ihn am Fahrzeug und Ria beobachtete und spähte. Anoo musste immer wieder ihr Hemd und ihr Gesäß inspizieren und stöhnte innerlich: „Die Frau muss sich toll anfühlen.“ Wieder zurück im Lager, wurden Alt- und Frischholz zerstückelt, gemischt und in das größte Pilz-Beet gestreut. Nach dem es reichlich mit Wasser begossen war, wurde es auch noch abgedeckt.
Die Gruppe verfügte über ein richtiges Fernrohr, mit dem man bis hinüber zum parallel verlaufenen Gebirge sehen konnte. Mira, Ria und Ebro machten oft Ausflüge oder saßen auf dem Hügel und beobachteten die Tierwelt. Die Damen mit Fernrohr und Fernglas, Ebro mit Waffe. Insgeheim suchten sie Elefanten. Wenn es hier afrikanische Tiere gab, die vielleicht aus einem Zoo entlaufen oder sogar aus Afrika eingewandert waren, konnte das auch auf Elefanten zutreffen. Und sie suchten nach Großkatzen; diese vielen Huftierherden mussten doch auch Jäger anziehen. Das Hunderudel hatte sich natürlich als Wolfsrudel herausgestellt. Das Rudel wurde noch mehrmals gesichtet, aber immer in mehreren Kilometern Entfernung.
Anoo kontrollierte gerade wie jeden Tag die Leuchtschnüre und fand es wie immer unglaublich, dass man mit so einem minimalen Aufwand wilde Tiere fernhalten konnte, als er von Mira gerufen wurde. Sie würde mit Ria in den Hügeln auf die Pirsch gehen und bräuchte jemand mit Schießgerät. Ebro sei mit anderen in der Ebene, um zu jagen. Das ließ sich Anoo kein zweites Mal sagen, überhaupt plagten ihn Gedanken wie er es schafft, Ria in die Landschaft zu locken. Immer eine neue Tierart finden zu müssen, konnte auf Dauer nicht funktionieren. Die zwei Frauen erwarteten ihn mit vollen Umhängetaschen, die Wanderung konnte länger dauern. Anoo freute sich und steckte belegte Brote ein, die Inoruu vorbereitet hatte und eine Kunststoffflasche voll Tee.
Sie wanderten nach Süden. Am Wasserlauf zogen sie die Schuhe aus und krempelten die Hosen hoch. Die Bäche waren alle flach. Es wurde aber weniger eine Wanderung als eine Pirsch. Vorsichtig schaute Ria um jede Biegung und hinter jedem Busch hervor, wenn es einen gab und Anoo freute sich an ihren katzenhaften Bewegungen. Nach einer halben Stunde scheuchten sie zirka fünfundzwanzig Rehe auf, die sich tagsüber in den Hügeln versteckten. Sie sahen einen Fuchs vor seinem Bau, der bestimmt Junge hatte, ein braunes Hermelin, fanden Frösche, Molche und eine Schlange. Anoo sprang ihr hinterher und drückte ihr das Schießgerät ins Genick. Ria nahm die Schlange auf und wusste sofort, dass sie Ringelnatter genannt wurde. Sie hielt das Reptil im Nacken und wurde von ihm mit weit aufgerissenem Schlund angefaucht. Das Maul der Schlange war zahnlos, sie war also ungefährlich. Leider überlebte sie die Untersuchung nicht, Anoos Druck war zu heftig gewesen.
An einem trockenen nach Osten ausgerichteten Hang huschten braune und grüne Eidechsen herum. Anoo entdeckte eine andere aber kleinere Schlange, die sich sonnte. Er stürzte sich auf sie und wurde prompt gebissen, diese Schlange hatte Zähne. Er wusste von den tödlich giftigen Schlangen Australiens und stand kurz vor der Panik. Mira und Ria kannten die Harmlosigkeit der europäischen Schlangen. Mira klebte ihm ein desinfizierendes Pflaster auf den gebissenen Finger. „Das war eine harmlose Schlingnatter“, sagte Ria dazu. „Wenn ich mich täusche und es war eine Kreuzotter, wird dein Arm bald dick. Dann wäre es besser, zurückzugehen.“ Ria hatte sich alle verfügbaren Tierbücher zu Gemüte geführt. Besonders oft die der afrikanischen Tiere. Kurz vor der Reise hatte sie sich mit den europäischen Arten beschäftigt. Außer bei den Insekten, war sie beim Bestimmen aller Arten sattelfest.
Sie standen vor einem breiten Tal in dem es nur so von Wasser glänzte, verspürten aber keine Lust, durch einen tausend Meter breiten Sumpf zu waten, es würden bestimmt noch trockenere Zeiten kommen. Also beschlossen sie im Kreis zu gehen, begaben sich in Richtung Wald und würden dann dort Anoos Fahr- und Schleifspuren kreuzen. Plötzlich blieb Ria abrupt stehen: Hinter dem Sumpf standen fünf dunkle Punkte. Ria hob die Gläser vor ihre Augen und schaute und schaute. „Anoo, was siehst du?“, forderte sie ihn auf ebenfalls zu schauen. Nach einer Minute meinte er: „Große Antilopen mit kurzen Hörnern.“ „Genau. Wenn mich nicht alles täuscht sind das Elan, die größten und schwersten Antilopen der Welt. Ein Bulle, zwei Mütter und zwei Jungtiere. Auch die gehören eigentlich nach Afrika.“
Kurz vor dem Waldrand stiegen sie nach oben. Bevor sie oben ankamen hielt Ria wieder an und lauschte. „Hört ihr das?“ flüsterte sie. „Da wühlt irgendwas. Hier muss es auch Wildschweine geben. Komisch, dass wir noch keine gesehen haben.“ Langsam, den Kopf nach oben gereckt, was ihren Hals noch dünner und länger machte, stieg sie hoch, Mira und Anoo folgten. Oben grub ein großes, braunes undefinierbares Fellknäuel in der Erde. Das Tier befand sich genau auf Anoos Fahrspur, die es vermutlich aus dem Wald gelockt hat. Die drei standen ratlos herum und Anoo kam das Tier doch ein wenig groß vor. Es war deutlich größer als ein Schwein. Plötzlich hob es den Kopf und eine Sekunde später stand es auf den Hinterbeinen und überragte die Südländer bald um einen halben Meter.
„Ein Braunbär“, schrie Ria. „Schreit, brüllt, macht Lärm“ und sie quickte wie am Spieß. Mira und Anoo brüllten sich die Seele aus dem Leib, Ria schleuderte ihre Umhängetasche hinter den bedrohlich nahe gekommenen Bär. Der ließ sich auf alle Viere nieder, drehte sich um, schnappte sich Rias Tasche mit den belegten Broten und rannte wie von Hornissen verfolgt zurück in den Wald.
„Oh Scheiße“, stöhnte Anoo und griff sich ins Haar. „Das plumpe Vieh rennt ja schneller als ein Mensch.“
„Was bin ich doch blöd“, schimpfte sich Ria. „In Europa gibt es Bären und keine Tiger und Löwen.“ Kopfschüttelnd ging sie weiter.
Anoo sagte zu Mira. „Wenn in so einer prickelnden Situation jemand sofort weiß was zu tun ist, finde ich das schon enorm.“
Mira nickte. „Ja, irgendwie beruhigend. Aber mich beunruhigt auch etwas. Hier haben zwei Gefallen aneinander gefunden. Das kann Streit und Ärger bringen.“
Am Abend saß Anoo ganz alleine auf dem Hügel und schaute nach Westen. Zu Fuß hatte er das Fernrohr nach oben geschleppt und suchte die Ebene bis hinüber zum anderen Gebirge nach Tieren ab. Die wenigen Säugetiere die dort noch grasten, verfolgten keine bestimmte Richtung, es waren wohl die Tiere, die ganzjährig hier lebten, der Zug nach Norden war durch. „Hier haben zwei Gefallen aneinander gefunden“, hatte ihm Mira gesagt. Das konnte nur heißen, dass er auch Ria gefiel, nach Miras Meinung. Anoo saß da und schaute mit offenen Augen über das Grasland, ohne etwas zu sehen. Er spürte einen nicht zu erklärenden positiven Einfluss auf seine Psyche. Dabei durchströmen ihn angenehme Gefühle, in seinem Innern breitete sich eine unerschütterliche Ruhe aus.
Und nun, nach diesem Bärenerlebnis, hier oben in der untergehenden Sonne, fühlte er deutlich, dass er ein Anderer geworden war. Er wusste nicht, an was es lag. Lag es an der fremden Luft? Oder an der übersichtlichen Landschaft? Am Tierreichtum und der endlosen unversehrten Natur? Auf jeden Fall: Seit seiner Ankunft in Europa war er gelassener, ausgeglichener, sein Hirn schien strukturierter, seine Gedanken klarer. Alles sah er überaus deutlich und auf einmal konnte er sich sogar von außen betrachten. Mit offenen Augen sah er sich in der untergehenden Sonne auf dem Hügel sitzen und zum Lager hinunterschauen, schwebte um sich herum und befand sich in einem Gefühl absoluter Zufriedenheit.
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