„Die Welt kann so friedlich sein“, meinte Robbe in die Stille.
Anno fragte „Wie hoch fliegen wir eigentlich?“
„Keine zweitausend, aber dort unten muss es sehr ungemütlich sein. Das sind einfach die herrlichen Momente als Kapitän eines Wales. Hier oben glasklare Verhältnisse und Grabesstille, dort unten wüten die Elemente. Wobei ich auch die Menschen als Elemente sehe.“
„Du hast es wohl gerne ruhig. Fährst du deshalb um die halbe Welt, um möglichst weit weg vom Trubel zu sein?“ fühlte Anoo dem kleinen dicken Kapitän auf den Zahn.
„Ich fahre deshalb um die halbe Welt, weil ich gerne mit dem Wal fahre“, grunzte der. „Nie würde ich irgendwo bei irgendwelchen Wilden leben, so wie ihr das vorhabt, oder mich sonst wo in der Fremde niederlassen. Ich bin ein Luftpionier und kein Spatenpionier.“
„In Europa gibt es überhaupt keine Wilden“, behauptete Anoo. „Die Europäer sind vermutlich als erste ausgestorben und am gründlichsten, weil ihr Kontinent die meisten Schadstoffe abbekommen hat und das flächendeckend.“
„Ich komme von der Südinsel. Als ich ein kleines Kind war, raffte eine Seuche alle Kaninchen hinweg. Die Viecher saßen ohne Angst im Freien herum und sind gestorben. Kaum waren alle tot, habe ich schon wieder ein Gesundes gesehen. Nach zwanzig Jahren gab es wieder so viele Kaninchen wie zu meiner Kindheit. Was lernen wir daraus? Es überleben immer welche. Entweder, weil sie unter günstigen Umständen gelebt haben, geschickter waren als andere, oder ihre Körper widerstandsfähiger. So viel einmal zu deinen ausgestorbenen Europäern.“
„Leuchtet mir ein“, sagte Anoo. „Wenn ich einen Europäer fotografiert habe, schicke ich dir das erste Bild. Ich lege mich jetzt wieder hin.“
Das einhundertzwanzig Meter lange Luftfahrtzeug steuerte dem Schwarzen Meer entgegen und dann an dessen Küste entlang. Rechts lag das Wasser, links eine Gebirgskette. Am Schwarzen Meer musste es die Tage zuvor gewaltig geregnet haben, alle Flüsse die ins Meer mündeten führten Hochwasser, die Kies- und Sandbänke der Deltas waren überschwemmt, kein Landeplatz war in Sicht. Offene Flächen in den Tälern konnten auch nicht gesichtet werden, überall standen Urwälder aus mächtigen Bäumen. Nach Robbes vorsintflutlicher Landkarte dürfte es Wälder überhaupt nicht geben. Er und Mira hofften auf den breitesten der eingezeichneten Flüsse. Und dort hatten sie Glück, der Fluss hatte sich ins Meer einen neuen Weg geschaffen, ein Teil des Deltas lag trocken. Sie landeten wie gehabt, pumpten Wasser nach, übernachteten am Boden auf einer Sandbank und starteten zur letzten Etappe. Nach diesem letzten Meer schwenkte der Wal nach Nordwesten. Unter der Besatzung stieg die Spannung; alle erwarteten, dass Mira nun ihre Geheimniskrämerei beendet und die Karten auf den Tisch legt.
Nach dem Frühstück bat die Chefin alle sitzen zu bleiben. „Jetzt sollt ihr endlich wissen was Sache ist.“ Sie rollte die Leinwand herunter, entnahm einer Schatulle einige Glasblättchen und schob sie in den Projektor. Auf dem Gewebe erschien Europa. „Wir sind in Europa angekommen und zwar am südöstlichen Ende.“ Sie zeigte die Stelle. „Wir ihr seht, ist Europa nicht so rund wie Australien, es besteht aus Inseln, Halbinseln und einer Zentralen Landmasse.“ Mit dem Zeigefinger tippte sie die Inseln und Halbinseln an. „Welche Ecke wird unsere sein, fragt ihr euch. Keine. Wir fahren mitten hinein. Die Aufklärer haben für uns eine Gegend gefunden, die für eine Besiedelung sehr geeignet scheint. Dort sollen wir Pionierarbeiten durchführen und die nördlichste Zivilisation unserer Erde gründen. Wenn der Boden und das Klima eine Besiedelung zulassen, sollen Bauern und Jäger aus der Heimat hergebracht werden. Unsere Regierung will die Übervölkerung unserer Inseln verringern und nachhaltig Siedler ins Ausland locken, damit sich unsere Zivilisation weltweit verbreiten kann.“
So weit so gut. Jeder wusste, dass er zum Arbeiten mitmusste. Nur, wo sie arbeiten sollten, wusste immer noch keiner.
Mira setzte ihren Vortrag fort, ohne auf den Punkt zu kommen. „Wie geplant werden wir uns eine Stelle an einem Fluss oder Bach suchen, die für eine größere Siedlung geeignet ist.“
Dann unterbrach Ebro, der sie am längsten kannte. „Mira, jetzt sag uns doch erstmal wo wir siedeln dürfen. Die Leute hier interessiert, ob sie schwitzen oder frieren müssen.“
Die Chefin bekam einen ausgebremsten Gesichtsausdruck, doch sie ließ sich herab und zeigte in das Inland. „Hier, in diesem Flusstal in Westeuropa sollen wir es probieren. Der Fluss kommt aus diesem großen Gebirge und mündet dort oben in das Meer. An seinem Oberlauf liegt er tief zwischen zwei Gebirgsketten, das Tal ist also geschützt und klimatisch begünstigt. Die ganze Breite von dreißig bis vierzig Kilometern ist frei von Büschen und Bäumen, das heißt: hier ziehen große Herden von Wiederkäuern hindurch, die die Vegetation niedrig halten. Das komplette Tal ist Weideland, vermutlich seit Jahrhunderten. Wie wir inzwischen wissen, bilden durchziehende, grasfressende Großtiere die fruchtbarsten Böden. Dort wo viel gekackt wird, befinden sich reichlich Mineralien und Spurenelemente in der Erde. In diesem Tal wird es im Winter vielleicht auch schneien, aber unsere Obstbäume werden dort nicht erfrieren.“ „Und wie heißt der Fluss?“ Ebro beugte sich der Karte entgegen. „ Upper Rhine Valley , steht hier.“
Per Knopfdruck rasselte ein weiteres Glasplättchen in die Halterung, eine bergbegrenzte Wiesenlandschaft erschien. Weitere Bilder zeigten einen mäandernden Fluss, einen Schwarm Wasservögel und eine Herde gehörnter Tiere. Dazu meinte sie: „Rhein ist der Fluss und wir siedeln am Oberlauf, das sind dreihundertfünfzig Kilometer Weideland, Ackerland für eine Million Südländer.“
Bei dieser Zahl zweifelten einige an Miras Verstand und hielten sie für größenwahnsinnig. Nüchtern denkende Besatzungsmitglieder wussten, dass Siedler nie und nimmer für neues Ackerland um die halbe Welt reisen würden. Sie dorthin zu transportieren wäre auch viel zu teuer. Irgendwie war das ganze Unternehmen ziemlich spinnig, kritisiert wurde aber nicht. Einem Teil der Crew ging es um die Bezahlung, einem anderen um die Ehre der Teilnahme, wieder anderen um die Abenteuerlust. Doch das Ziel ließ auf sich warten. Kaum lagen die ersten europäischen Berge hinter ihnen, setzte ein kräftiger Nordwestwind ein. Der Wal schien auf der Stelle zu treten. Der beständige Gegenwind rüttelte an dem Gefährt und der Wal machte Geräusche, als ob er vor Anstrengung schnaufen würde. Nur im Schneckentempo zog die Landschaft an ihnen vorüber. Robbe versuchte es in Bodennähe, aber über der Gebirgslandschaft war mit gefährlichen Wirbeln zu rechnen. Dann suchte er in der Höhe nach Rückenwind und Windstille, was auch nicht mit Erfolg belohnt wurde. Ihm blieb nichts anderes übrig, als in der ruhigsten Luftschicht gegen den Wind zu steuern. Der Kapitän und die Chefin diskutierten, ob sie die Nacht am Boden verbringen sollten. Da sie nach Sonnenuntergang mit Speicherstrom und gedrosselter Geschwindigkeit fahren mussten, würden sie die ganze Nacht nicht vom Fleck kommen.
Mira plädierte gerade für eine Landung, als Darran vom Funkgerät kam. „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht aus der Heimat.“ In der Kabine verstummten die Gespräche. „Die schlechte ist: Wir sollen nicht mehr auf dem Boden übernachten. Eine unserer Besatzungen wurde in Indien von Wilden angegriffen. Sie ließen sich zwar mit dem Licht der Taschenlampen verscheuchen, aber wir sollen kein Risiko eingehen.“ Darran machte eine Pause, Mira und Robbe nickten. „Die Gute ist, morgen fliegt für uns ein Aufklärer über Mitteleuropa und schickt uns den Wetterbericht. Da seid ihr platt, was.“
Mira entfuhr ein „Ui. Extra wegen uns schickt die Regierung einen Aufklärer.“ Sie, Robbe, Darran und auch Ebro staunten sich an. „Dass der hier durchfliegt muss Zufall sein“, meinte der Capo.
Читать дальше