Alle zwanzig Reisenden standen an den drei Frontscheiben und erlebten, wie sie in eine gletscherreiche Bergwelt eintauchten; die Südländer fühlten sich auf ihre Südinsel versetzt. Bald zeigte es sich jedoch, dass dieses europäische Gebirge mächtiger war - um über einen Pass zu kommen, musste der Wal kräftig steigen. Kurz stand Robbe vor der Entscheidung Wasser abzulassen, weil der Gasmotor, um die nötige Höhe zu erreichen, nicht genug produzierte. Im letzten Moment zeigte es sich, dass es reichen würde und sie fuhren, knapper als es die Vorschrift erlaubte, hinüber in ein anderes Tal. Dabei entdeckten sie ihre ersten europäischen Säugetiere. Auf dem Pass sprangen und hetzten dutzende Tiere davon, die Besatzung sah zu Ria Teata. „Die sehen aus wie Gämsen und Steinböcke“, sagte sie mit Kennerblick. „Die gibt es in unseren Bergen aber auch.“
„Wie kommen die bloß von Südland hierher?“ fragte jemand. Ria fixierte mit dem Fernglas einen Punkt am Himmel, andere taten es ihr gleich. Es war ein Vogel, er kam immer näher, wurde größer und größer und obwohl er das Gefährt nicht kennen konnte, schien er sich vor dem Wal nicht zu fürchten. „Das ist ein Geier“, rief Ria, „die werden so groß wie unsere Albatrosse. Drei Meter Spannweite.“
„Der sieht aber viel hässlicher aus“, bemerkte Mira.
„Muss er ja, er ernährt sich von Aas“, entgegnete die Freiland-Zoologin.
Der Geier, von dem Robbe schon befürchtete, dass er auf einer Zigarre landen würde, entschied sich für den Weiterflug. Nach links und rechts erstreckten sich weiße Gipfel und, obwohl die Sicht unbeschreiblich klar war, konnten sie die Enden der Gebirgskette nicht sehen. Über einem weiteren Tal glitt der Wal einem weitverzweigten See entgegen, an dem sie dann entlang fuhren, bis die hohen Berge hinter ihnen lagen. Danach wurde zu Abend gegessen, was sich wie gewöhnlich hinzog, es gab ja nichts anderes zu tun. Die untergehende Sonne blendete die Sitzenden. Darran stand am Lenkrad. Auf einmal sagte er völlig belanglos: „Wir sind da“. Anoo kapierte am schnellsten, stand auf und stellte sich an die Front. Sie fuhren nach Norden, vor ihnen lag ein breites Tal ohne Wald, beidseitig gesäumt von niederen Gebirgen. „Wir sind heil angekommen“, dachte Anoo für sich, „Tairiri sei Dank.“ In der Mitte des Tales, dort wo sich auf ihrer Karte ein schmales blaues Band befand, schlängelten sich zahlreiche Wasserläufe. An deren Peripherie befanden sich ausgedehnte Kiesfelder. Den Rest des Talbodens bedeckte frisches Gras, das im Abendlicht mehr orange denn grün leuchtete. Das Orangegrün war grüppchenweise von dunklen Punkten bedeckt.
Ria bettelte: „Können wir tiefer?“ und sah sich mit dem Fernglas ihre Augen wund. „Da grasen Wildrinder“, stellte sie als erstes fest. „Wohl verwilderte Hausrinder. Dort hinten grasen auch noch Ziegen“, zeigte sie nach rechts auf dunkle Punkte, die vom letzten Sonnenstrahl angeleuchtet wurden. Der Feuerball versank hinter dem linken Gebirge, eine Artbestimmung wurde schwer. Die Zoologin versuchte es weiter. Plötzlich sagte sie: „Das kann doch nicht sein. Die da unten sehen aus wie Antilopen, die ich aus dem Afrikabuch kenne. Das wird morgen sehr interessant.“ Weit vor ihnen, rechts der Gewässer, lag wie eine Insel im Gras-Meer, eine interessante kleine Hügellandschaft. Der Wal hielt sich aber links des Flussgewirrs, wo die Ebene breiter war.
„Alle mal herhören“, ertönte Miras Stimme. An der Wand leuchtete nun eine andere Karte, sie zeigte auf rote Markierungen. „Diese Punkte müssen wir zuerst anfahren, denn dort standen einstmals große Städte. Wir suchen nach unnatürlichen Bodendeformierungen und wenn wir welche finden, dann Leute, dann wird gebuddelt. Wir fahren während der Nacht bis ans Ende des Tales und morgen wieder langsam zurück. Dabei suchen wir nicht nur nach den Resten der verschwundenen Zivilisation, wir müssen uns auch einen schönen und geeigneten Platz suchen, auf dem wir unsere Versuchsfelder anlegen können. Vor allem müssen wir klären, ob wir östlich oder westlich des Flusses siedeln wollen, denn mit einem Fahrzeug werden wir durch das Kies- und Wasser-Konglomerat nie ans andere Ufer kommen. Dazu haben wir zwei Wochen Zeit, dann muss der Wal zurück.“
Am nächsten Morgen fanden sie in der Ebene auch gleich einige verräterische Unebenheiten. Sie landeten, pflockten den Wal an und frühstückten noch an Bord. Gleich danach befreiten sie Werkzeug und Maschinen aus ihren Kisten. In den zwei Hintersten, den Größten, stand zum einen eine Planiermaschine mit vier großen Rädern, zum anderen ein fünfsitziges Geländefahrzeug, dem eine Baggerschaufel angebaut wurde. Bis Sonnenuntergang schafften sie sich an drei Stellen in die Erde, vorrangig gruben sie nach Metallen. Parallel dazu untersuchten die Archäologen, Geologen, Biologen und Laboranten die Erde auf chemische Rückstände, Kunststoffteile, Mineralien, Spurenelemente, Tier-Kot und vieles mehr. Zwei Andere suchten die Umgebung mit Metallanzeigern ab. Die Geräte sandten Wellen ins Erdreich, die von Metallen reflektiert wurden und auf einer Glasscheibe aufleuchteten.
Derweil spazierten Mira und Ria mit Ferngläsern und Wasserflaschen durch die Landschaft und bestimmten die Tierwelt. In der Nähe des Landeplatzes standen Lamas oder Alpakas, so genau wusste es keine, die neugierig irritiert das Treiben der Menschen beobachteten. Ziemlich schnell stießen die zwei Frauen auf einen Wasserlauf, wo sie Rotwild verscheuchten, das auch im Südland vorkam. „Nach neusten Erkenntnissen“, verriet Ria, „wurden Gämsen, Steinböcke und Rotwild von Europa auf unsere Inseln gebracht. Viele bestreiten das aber, deshalb halte ich zu diesem Thema lieber meine Klappe.“ Irgendein heftiges Hochwasser hatte Kies zu einem Wall aufgespült. Die Ebene war nicht besonders plan, überall fanden sich solche Wälle die wie Endmoränen wirkten, die meisten waren grasbewachsen, also schon älter. Die Frauen sichteten einen Feldhasen und rätselten, wie er in dieser busch- und baumfreien Landschaft ohne Deckung überleben konnte. Vielleicht sei er aus dem Wald herunter gekommen, meinte Mira, denn die Berge waren ab einer gewissen Höhe lückenlos von Urwald überzogen. Die Zwei stellten sich auf den Kies-Wall und suchten die Gegend ab.
„Echt irre“, entfuhr es Ria, die konzentriert immer in die gleiche Richtung starrte. „Da hinten grast eine Herde von afrikanischen Tieren. Ich kann Kuhantilopen, Weißschwanzgnus und Springböcke ausmachen.“ Sie suchten weiter und waren von ihrer Entdeckung total gefesselt.
„Die Europäer hatten doch bestimmt auch Zoologische Gärten“, überlegte Mira. „Da werden die Afrikaner herkommen. Die Antilopen haben die Menschen überlebt und sich vermehrt.“
„In den Zoos haben sie dann vermutlich auch Tiger, Löwen, Leoparden und Hyänen gehalten“, spann Ria Miras Gedanken weiter. „Ob die auch überlebt haben?“
„Komm, wir gehen Mittagessen, danach nehmen wir Ebro mit.“
Der empfing sie mit: „Bin ich froh, dass ihr zurück seid. Wir haben dort hinten ein Rudel Hunde gesehen. Ich wusste nicht wo ihr wart, nehmt nächstes Mal ein Toky mit.“
„Wir nehmen das nächste Mal einen Jäger mit“, sagte Mira und tätschelte Ebros Schulter.
Die Zoologin war mit ihrem Tag sehr zufrieden, die anderen nicht. Es wurde nichts Verwertbares gefunden. Sie beschlossen die Gruben wieder zu verfüllen, um keine Fallen zu hinterlassen. Die Oberflächen befanden die Wissenschaftler als tadellos, ab einer gewissen Tiefe wurde es kritisch, dort lag noch einiges an Rückständen. Das hieße, meinte der Capo und Jäger Ebro, dass das Wild ohne Bedenken verzehrt werden konnte, denn das fraß ja nur an der Oberfläche. Das geschossene Fleisch würde trotzdem zuerst im Labor untersucht, befahl Mira.
Landis hatte es sich so schön ausgemalt, wie sie mit Anoo im Dunkeln die Kabine verlassen und mit ihm in einer Kuhle ins frische, trockene Gras liegen würde. Sie wollte mal wieder geliebt werden und Anoos Körper in ihren Händen halten. Die Sichtung der Hunde, die auch Wölfe sein konnten, hatte ihrem süßen Plan den Todesstoß versetzt, denn während der Begattung ständig nach Wölfen Ausschau halten zu müssen, stellte sie sich wenig lustvoll vor. Ihre Enttäuschung und schlechte Laune konnte sie kaum verbergen. Anoo, der selbstverständlich wusste wie seine Freundin tickte und wie der Hase lief, sprach sich mit den zwei anderen Paaren ab, um in der gemeinsamen Unterkunft eine Viertelstunde mit Landis alleine zu haben. Da es schnell gehen sollte, musste sich Landis bücken, was sie überhaupt nicht leiden konnte. Hauptsache mal wieder etwas Warmes drin gehabt, spielte sie für sich die unangenehme Haltung herunter.
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