„Was für Bingo?“ kam als Frage zurück.
Timothy erkannte das Ende des Treppenhauses. Er stoppte kurz ab, riss die Tür vor ihm auf und rannte in einen hell erleuchteten Flur. Es war niemand zu sehen und er beschleunigte wieder. „Superbingo!“ stieß er dabei hervor und schon war er an dem Empfangstresen, hinter dem zwei Schwestern saßen, ihn mit großen Augen anstarrten und ihrer Verwunderung sofort verbal Ausdruck verliehen, vorbei gerannt. Instinktiv warf er ihnen einen Blick zu und verlor daher für einen Augenblick die Orientierung.
Doch das reichte aus, um alles zu ändern.
Der Kerl kam unvermittelt hinter einer großen Birkenfeige hervor, die schräg vor dem Ausgang in einem mächtigen Topf stand. Dass er seinen rechten Arm ausgetreckt waagerecht in der Luft hielt, konnte Timothy nicht sehen – wohl aber spüren.
Denn nachdem er die verächtlichen Worte „Scheiß auf Bingo!“ hörte, war es ihm, als würde er mit der Brust gegen eine Betonmauer rennen. Augenblicklich wurde sein Lauf an dieser Stelle abgebremst, während seine Beine noch weiterliefen. Urplötzlich fand er sich waagerecht in der Luft wieder und schlug dann hart und unkontrolliert mit dem Rücken auf den Betonboden. Bevor ihm schwarz vor Augen wurde, konnte er noch das breit grinsende Gesicht von Thomas Lieberman, Hals Runner , über sich erkennen und spüren, wie er ihm genüsslich das Paket aus der Hand riss.
*
„Timothy?“ Frank war jetzt nervös, denn die Geräusche, die sein Partner machte oder besser, gemacht hatte , bevor er vollkommen verstummt war, ließen nur Übles erahnen.
Plötzlich hörte er eine fremde Stimme. „Mister?“ Sie war weiblich. „Hören sie? Können sie mich hören?“ Klang eigentlich ganz nett, aber auch besorgt und war daher schlecht.
„Verdammt Timothy!“ raunte Palmer und ihm wurde klar, dass ihr Sieg hier in weite Ferne gerückt war.
*
Palmer mit einer solch hohen, sanften und noch dazu so besorgten und vor allem wohlklingenden Stimme?
Dixon war verwirrt und öffnete wieder seine Augen. Das tat im ersten Moment echt weh, denn er hatte das Gefühl, als würde er direkt in die Sonne schauen. Sofort kniff er seine Lider wieder zusammen und verzog dabei schmerzhaft das Gesicht, auch weil er einen ziemlich harten Stich in seinem Kopf verspürte. Timothy stöhnte tief und richtete im nächsten Moment seinen Oberköper auf. Während seine linke Hand wie automatisch an seinen dröhnenden Kopf fasste und er Palmer in seiner merkwürdig, liebevollen Stimme „Warten sie, nicht!“ sagen hörte, öffnete er wieder die Augen.
Schon viel besser! Aber warum siezt mich Frank? Timothy atmete tief durch, als sich plötzlich ein Gesicht vor das seine schob. Ein verdammt hübsches Gesicht mit schulterlangen, gelockten blonden Haaren und leuchtend blauen Augen, über einer wohlgeformten Nase und einem sinnlichen Mund.
Das Gesicht fragte. „Alles okay?“
Während Timothy darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er nicht Palmers Stimme gehört hatte, sondern die der Frau vor ihm. Außerdem erkannte er sie als eine der beiden Schwestern, die er hinter dem Empfangstresen ausgemacht hatte, bevor… verdammt!
Ruckartig wuchtete sich Dixon in die Höhe, wäre aber wohl wieder zu Boden gekracht, wenn sich die junge Frau nicht zeitgleich mit ihm aufgerichtet und ihn dabei gestützt hätte. „Warten sie!“ rief sie. „Nicht so hektisch! Sie müssen sich ausruhen!“ Dabei warf sie ihm ein mitleidiges Lächeln zu.
„Das wird er gleich haben!“ hörte Timothy eine weitere Stimme vom Empfangstresen her. Sie war auch weiblich, aber deutlich älter und auch wesentlich unfreundlicher. Als er dorthin blickte, sah er eine rundliche Frau in mittleren Jahren mit schwarzer Kurzhaarfrisur und sehr strengem Blick. „Der Sicherheitsdient ist informiert!“ Jetzt erkannte er den Telefonhörer in ihrer rechten Hand. Entsetzt riss er die Augen auf, was der älteren Frau ein widerliches Grinsen entlockte.
„Hören sie!“ Timothy atmete tief durch, dann sah er der jungen Frau direkt in die Augen. „Es tut mir leid. Vielen Dank für ihre Hilfe. Es geht mir schon wieder prächtig!“ Stattdessen aber wurden seine Knie wieder wacklig und die junge Frau musste ihn erneut stützen.
„Von wegen!“ sagte sie besorgt und packte ihn noch fester.
„Wie heißen sie?“ fragte Timothy.
„Tess!“
„Danke Tess!“ Und im nächsten Moment zog er sie an sich und küsste sie mit feuchten Lippen auf den Mund. Die Schwester war so perplex, dass sie nicht reagieren konnte. Mit großen Augen ließ sie es geschehen. Dabei löste sich ihr Griff von Timothys Oberarmen.
Das hatte er erreichen wollen. „Toller Kuss!“ Und schon schob er sie beiseite und rannte aus der Klinik auf die Straße.
Hinter sich konnte er noch die erbosten Worte der älteren Schwester vernehmen, doch hatte er natürlich nicht vor, auf sie zu hören. Stattdessen blickte er sich gehetzt um, sobald er die Straße erreicht hatte. Er hoffe auf…
Da! Nördlich der Straße hinauf, vielleicht hundert Meter entfernt, konnte er einen Mann laufen sehen. Mit einem Koffer in der Hand!
„Na warte!“ raunte Dixon und während er sich stöhnend und anfangs auch noch ein wenig unsicher auf den Beinen an die Verfolgung machte, versuchte er seine widerlichen Kopfschmerzen zu verdrängen.
„Frank?“
„Ja?“
„Thomas hat mich erwischt!“
„So was in der Art hab ich mir gedacht! Und?“
„Bin ihm wieder auf den Fersen! Richtung Norden!“
„Das sehe ich und bin schon auf dem Weg!“ In der Tat hatte Palmer seinen Platz verlassen und fuhr jetzt in einem sanften West-Bogen nach Norden, um schnellstmöglich bei seinem Runner zu sein, sobald der das Paket seinem Widersacher wieder abgenommen hatte. Ein Blick auf das Display zeigte ihm, dass Hal dort im Norden seelenruhig wartete, während Ryker es Frank gleich tat und ihm folgte. Die anderen Teams hatten mittlerweile alle gedreht und waren auf Südkurs, doch würden sie hier wohl nicht mehr rechtzeitig erscheinen.
Timothy holte auf.
Thomas war ein ausgezeichneter Langstreckenläufer, doch verfügte auch er nicht über Dixons Möglichkeiten. Wo immer sich die Gelegenheit bot, nahm Timothy Abkürzungen und konnte mit Hilfe seiner Parkour-Technik Zäune, Terrassen, Mauern und Abgründe relativ problemlos überwinden, wenngleich er spürte, dass er noch immer nicht wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war und ihm allmählich die Luft ausging.
Nachdem er aber die nächste Mauer ohne Geschwindigkeitsverlust erst erklommen hatte, um dann über einen angrenzenden Balkon zurück auf den Bürgersteig zu springen, konnte er Thomas keine zehn Meter mehr vor sich ausmachen. Das spornte ihn nochmals an und er setzte weitere Kräfte frei.
Im nächsten Moment zuckte Thomas Kopf zurück und fast hätte er Timothy gesehen, wenn dieser nicht blitzschnell einen scharfen Haken nach rechts gemacht, mit Volldampf die Straße überquert und auf der anderen Seite hinter ein paar großen Bäumen Schutz gefunden hätte. Ob Thomas jedoch wusste, dass Timothy hinter ihm her war, konnte Dixon nur erahnen. Wenn aber nicht, dann konnte ihm der Überraschungseffekt hilfreich sein.
Plötzlich schickte sich Lieberman an, die Straße nach rechts zu überqueren und in eine breite Seitenstraße zu laufen. Timothy bog instinktiv noch weiter nach rechts in die angrenzende Einfahrt. Von dort aus konnte er sehen, dass er durch den Hinterhof problemlos über eine Terrasse in die Nebenstraße gelangen konnte, in die Thomas gerade einbog. Ohne zu zögern gab er Gas und raste mit Höchstgeschwindigkeit über den Rasen, hüpfte über das Brüstungsgeländer der Terrasse, vorbei an der Haustür und am anderen Ende wieder über das Geländer durch mehrere große, dichte Büsche hinaus auf den Bürgersteig. Eigentlich hatte er geplant, kontrolliert und zeitgleich mit Lieberman dort zu erscheinen, um den Runner umzurennen, doch natürlich hatte Timothy nicht mit den Büschen gerechnet. Mehr schlecht als recht und ohne echte Orientierung rauschte er hindurch, doch sprang er genau in dem Moment auf den Bürgersteig, als Thomas dort erschien. Anstatt ihn aber frontal umzurennen, krachte Timothy mit einem erstickten Aufschrei mit der linken Schulter gegen den anderen Runner . Der schrie entsetzt auf, doch konnte er nicht verhindern, dass er aus der Bahn gedrückt wurde. Dabei verlor er sein Gleichgewicht. Beim Versuch, es wiederzufinden, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren, verlor er offensichtlich für einen Augenblick die Orientierung, doch das reichte aus, dass er frontal und ohne auch nur den Hauch einer Abwehrreaktion gegen eine mannshohe Mülltonne am Straßenrand krachte. Ein lauter, hohler Knall war zu hören, als Thomas Kopf gegen den Kunststoffdeckel knallte, und sich mit seinem entsetzten Aufschrei vermischte, bevor er abrupt verstummte, sein Körper wie ein Flummi von der Mülltonne abprallte, augenblicklich jegliche Kraft verlor und er der Länge nach zu Boden schlug, wo er reglos liegen blieb.
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