„Ich weiß, in welchen Kreisen Domm verkehrt. Am Bahnhof gibt’s Etablissements, die sich darauf spezialisiert haben, Burschen, die noch um ihre sexuelle Orientierung kämpfen, ein paar Hinweise in eigener Sache zu geben.“
„Sexuelle Orientierung? Was soll das sein? Entweder, man ist stockschwul wie Rupert, oder man bevorzugt das andere Geschlecht.“
„Lernt man das in euren Seminaren? Ich will ja hier nicht den großen Erzieher spielen, Cilli, schließlich bist du inzwischen volljährig und kannst tun und lassen, was du willst. Aber wenn du einmal im Leben den Rat eines alten Freundes annehmen würdest …“
„Danke, deine Ratschläge riechen mir zu sehr nach Polizist .“
„Das kann man auch als Kompliment auffassen. Polizeibeamte sind schließlich keine Buhmänner.“
Harris hatte Cillis Vormundschaft nur übernommen, weil seine Schwester nicht mehr fähig gewesen war, ihr eine normale Mutter zu sein, aber er fragte sich manchmal, ob er ihr jemals ein normaler Vater hätte sein können, vorausgesetzt, sie wäre nicht erst mit fünfzehneinhalb Jahren zu ihm gekommen.
Jemand in ihrem Alter hatte damals nach Katrins Meinung längst flügge zu sein, wie sie selbst, als sie in die Stadt gegangen war, um „Aktionärin“ zu werden. Was auch immer das damals für sie bedeutet haben mochte, denn zu diesem Zeitpunkt verstand sie von Aktien wohl nicht mehr als ein Tellerwäscher von der ersten Million.
Katrin hatte seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr Anzüge und Krawatten getragen. Sie war der Typ von Frau, der in die Männerwelt einbrach, um allen zu beweisen, dass Frauen die besseren Männer waren. Sie hatte sich Cilli auf der Ledercouch eines Managers andrehen lassen – als Preis für einen Posten in der Führungsetage, wie Harris immer noch argwöhnte. Sie war eine Rabenmutter gewesen und vielleicht bewahrte ihr spurloses Verschwinden Cilli sogar vor einer schwierigen Zukunft.
Harris ging hinunter in den Garten und versuchte sich darüber klar zu werden, was das Ende seiner Arbeit wirklich für ihn bedeutete. Er rauchte drei Zigaretten, obwohl er das Rauchen längst aufgeben hatte, während er den abgestorbenen schwarzen Baum umrundete.
In diesem Haus hatte einmal ein verrückter junger Kerl namens Robert Quant gelebt, der Mädchen so lange im Keller des Anbaus gefangenhielt, bis er ihr „hässliches Inneres“ zum Vorschein gebracht hatte, um von ihrer äußeren Schönheit loszukommen.
Er hatte sie weder gefoltert noch vergewaltigt, sondern sie einfach einer wochenlangen Gehirnwäsche unterzogen, bis sie zusammenbrachen. Cilli war von ihrem „Mädchenfänger“, wie sie ihn immer nannte, fasziniert und machte sogar Führungen mit ihren Kommilitonen durchs Haus.
Hier hatte er Franziska gefangengehalten … Dort war das Badezimmer, wo sie die Überschwemmungen und den Brand verursacht hatte …
Da hatte sie gegen die Wasserleitungen geschlagen, um sich bemerkbar zu machen …
Cilli glaubte, Quant gebe den passenden Fall für eine psychologische Studie erster Klasse ab, vielleicht sogar für ihre Magisterarbeit.
Harris dachte missmutig, dass die meistens Menschen sich mehr für die dunklen Seiten der Menschen interessierten als für die positiven. Die Faszination des Bösen mochte ja durchaus eine soziale Rolle spielen. Auf diese Weise konnte man sich selbst davon distanzieren.
Vielleicht war es wie das Spiel der Kinder, man lernte den Umgang mit den Schattenseiten des Lebens, wenn man sich nicht erst als persönlich Betroffener damit befasste. Man war besser gewappnet für den Ernstfall. Allerdings durfte diese Faszination nicht zur Besessenheit werden.
Er versuchte für sich selbst immer eine saubere Grenze zu ziehen zwischen dem, was für seine Arbeit und für die eigene seelische Hygiene unbedingt nötig war, und dem menschlichen Hang zur Übertreibung.
Wie fast jeder Stoff und jedes Nahrungsmittel konnte auch jede Tätigkeit im Übermaß zum Gift werden. Man musste den zerstörerischen Kräften des Innern widerstehen, indem man sich niemals auf eine zu gefährliche Gratwanderung einließ ...
Drei Tage später lieferte er seine Marke und den Inhalt seines Blechspinds ab, seinen Schreibtisch hatte er schon am Vortag ausgeräumt. Das Büro hinter der Glasscheibe, in dem er als Chef der Abteilung gesessen hatte, sah kahl und unpersönlich aus ohne seine Fotos und die beiden stimmungsvollen Landschaftsgemälde. Er hatte seinen Mitarbeitern immer verschwiegen, dass er der Maler war. Das hätte leicht zum Autoritätsverlust geführt.
Kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hatte, beschäftigte sich in einer Welt des Verbrechens und der Gewalt mit etwas so Beschaulichem wie Landschaftsmalerei, auch noch englischer Landschaftsmalerei im Stil des neunzehnten Jahrhunderts.
Für ihn war die Malerei nach John Constable stehen geblieben. Malvern Hall , Das Kornfeld , Die Kathedrale von Salisbury oder Weymouth Bay in der National Gallery in London bildeten den absoluten Höhepunkt der Kunst.
Harris zog noch einmal prüfend die Schubladen seines Schreibtischs auf und während er die leeren Fächer studierte, hob er unvermittelt den Blick und betrachtete das Treiben in der Abteilung. Remmer saß am Computer und gab Daten ein. Lara hielt einen Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt, während sie in einen zweiten Hörer sprach und mit dem Teelöffel in der Kaffeetasse rührte. Und durch die offene Tür am Ende des Gangs konnte er in Bertrams Büro sehen …
Er hatte Bertram als seinen nächsten Vorgesetzten gebeten, um Gottes willen keine große Abschiedsfeier für ihn zu veranstalten. Harris hasste diese Art von falschem Getue. Er wusste, dass ein paar Leute in der Abteilung schon lange scharf auf seinen Posten waren und eine Feier würde sie nur dazu bringen, ein heuchlerisches Gesicht aufzusetzen.
Er wollte einen stillen Abgang, so unauffällig, wie damals, als er zum ersten Mal dieses Büro betreten hatte.
Ein Glas Sekt zum Abschied? Einverstanden.
Aber keine Reden, keine falschen Verbrüderungen, keine Lachsschnittchen vom Geld aus der Gemeinschaftskasse.
In diesem Moment setzte Bertram seine kreisrunde schwarze Metallbrille auf und bedeutete ihm, in sein Büro zu kommen.
Harris winkte zurück und schob die Schubladen zu. Dann legte er seine Beine auf die Schreibtischplatte und lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück. Das also war es!
So fühlte man sich, wenn man frei war und keine Rücksichten mehr auf seine Vorgesetzten nehmen musste. Er fragte sich, um wie viel besser dieses Gefühl erst gewesen wäre, wenn der Polizeipräsident oder der Justizminister höchstpersönlich ihm durch die Scheiben zugewinkt hätten.
„Sehen Sie mal, Peter“, sagte Bertram. „Ich greife meinen Verdacht ja nicht aus der Luft. Wir schätzen Sie als erfolgreichen Mitarbeiter. Sie gehören sicher zu jenen, an die man sich hier immer voller Respekt erinnern wird.
Von Ihrem kleinen Disput mit dieser Prostituierten … Tea – so war doch ihr Name? – reden wir hier nicht, weil es Ihre Privatsache ist.
Ich will Ihnen auch gar nicht unterstellen, dass Sie bewusst gegen meine Anweisungen gehandelt haben. Ich kann Ihre Betroffenheit über das spurlose Verschwinden Ihrer Schwester natürlich verstehen ...“
„Aber das ist noch nicht alles?“, fragte Harris.
„Jemand hat Katrins Büro durchsucht.“
„Was denn, jemand …?“
„Es war versiegelt“, sagte Bertram. „Das Siegel wurde geöffnet und nach der Durchsuchung sehr professionell wieder instandgesetzt.“
„Und jetzt wollen Sie mir unterstellen, ich sei dafür verantwortlich?“, erkundigte sich Harris ungläubig.
„Ich möchte nur vermeiden, dass Sie nach Ihrer Pensionierung auf die Idee kommen, Remmer bei seinen Ermittlungen ins Handwerk zu pfuschen.“
Читать дальше