Peter Schmidt
Die Stunde des Geschichtenerzählers
Agententhriller
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Inhaltsverzeichnis
Titel Peter Schmidt Die Stunde des Geschichtenerzählers Agententhriller Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
WEITERE TITEL
Impressum neobooks
Sie verlor einen Schuh – sein hoher Absatz war im morastigen Boden der Weide steckengeblieben. Wegen des hohen Grases fand sie ihn nicht gleich wieder. Sie tappte einige Schritte umher und spürte, dass Wasser durch die Ferse ihres braunen Perlonstrumpfes drang ...
Es war ungewohnt, Strümpfe und hochhackige Schuhe zu tragen. Wo ist er nur geblieben? dachte sie hilflos. Er muss doch hier ganz in der Nähe sein, ich bin nicht mehr als zwei oder drei Schritte gegangen …
Diana nahm irritiert ihre braune Hornbrille ab und blinzelte zur dunkelroten Backsteinsilhouette des Gehöftes hinüber, die sich in der Dämmerung scharf gegen den gelblichen Himmel abhob. Links, am steilen Einschnitt des Ufers, noch jenseits eines Geräteschuppens, dessen Bretterdach eingestürzt war, lag der Fluss. Blasser Dunst stand über ihm, das gemächlich treibende, schwarzgrüne Wasser zog hier und da kleine Wirbel.
An anderen Stellen warf es winzige Blasen: als atmeten dicht unter der Oberfläche zahllose Fische, die dunklen Körper eng aneinandergedrängt.
Man hatte ihr gesagt, dass der Fluss «Ems» hieß und etwa achtzig Kilometer nördlich in die Nordsee mündete (sie versuchte sich vorzustellen, wie das Meer dort oben aussah: sicher kaum weniger düster als der Fluss).
In diesem seltsam dunstigen, immer feuchten, bewölkten Land ging die Sonne nicht so plötzlich unter wie in den Tropen. Auch trübe Flüsse kannte sie nicht; zu Hause, wo sie alle auf dem einzigen Gebirgszug der Insel entsprangen, war das Wasser klar, mit hellem Sand und rötlichem Korallengrund.
Wie das Land schien auch das Gehöft etwas Bedrückendes, ja Bedrohliches auszustrahlen. Schon bald würden seine Backsteine mit ihren vom Staub patinierten Mörtelfugen den Geruch von Täuschung und Niedertracht ausschwitzen … heimtückische Schatten spielten im vorspringenden Gehölz des Dachstuhls und in den blinden Fensterchen unter der Regenrinne.
Ich bin wohl nur vom langen Flug etwas übermüdet, dachte sie und strich sich verstört mit den Fingerspitzen über die Stirn.
Da lag ihr Schuh ja ... nur einen Schritt entfernt; sein Absatz steckte im Lehm. Sie säuberte ihn behelfsmäßig mit einem Zweig, zog ihn an und strich den Strumpf an ihrer Wade glatt:
Ein wohlgeformtes Bein! Es würde Karlsbeck gefallen – jung und fest und von jenem angenehmen Mittelbraun wie bei fast allen Mulattinnen auf der Insel, deren schwarze Mütter sich mit den weißen Einwanderern verbunden hatten.
Diese dünnen Strümpfe und hochhackigen Schuhe allerdings waren schon sehr merkwürdig, eher etwas für die Straßenmädchen in Daressalam oder Moroni. Sie kam sich damit vor, als habe sie sich wie eine Schauspielerin ausstaffiert.
Aber bin ich nicht auch eine? dachte sie. Im Namen der guten Sache: Ja, sie war es! Sie trug sonst niemals Perlonstrümpfe. Wozu auch? Es war heiß auf Mayotte und die Gassenjungen wären hinter ihr hergelaufen und hätten sie deswegen ausgelacht. Man hatte ihr gesagt, sie passe sich besser der Landessitte an. Hier gingen viele Frauen in Hosen oder trugen Mäntel und sonntags hielten sie ein Täschchen am Arm.
Sie hatte sie am Flughafen beobachten können: dicke, hässliche Frauen, bei deren Anblick man sich ernsthaft fragte, warum ihre Männer sie nicht auf der Stelle verließen. Sicher gingen sie alle fremd. Gleich darauf wurde ihr bewusst, wie gemein dieser Gedanke war – böswillige Vorurteile, die man besser unterdrücken sollte! ermahnte sie sich.
Ihre braune Hornbrille dagegen würde Karlsbeck wohl kaum gefallen. Sie hoffte inständig, dass sie ihn nicht zu sehr abstieß. Anfangs hatte sie sogar mit dem Gedanken gespielt, sich Haftschalen anfertigen zu lassen.
Doch zwei Wochen vor ihrem Abflug aus Daressalam hatte ein Bombenattentat des Mouvement Militant de Mayotte , der verbotenen marxistischen Bewegung, den kleinen Optikerladen der Inselhauptstadt in die Luft fliegen lassen.
Eine Detonation, die wie eine Mahnung über die Dächer von Dzaoudzi hallte und ihre armseligen sechstausend Einwohner aus dem Schlaf riss.
Sie war morgens in die breite Prachtstraße zum Präsidentenpalast eingebogen, einem rosafarbenen Gebäude mit Säulen und Pilasterbögen am Portal und einem grünbraun gefleckten Schützenpanzer französischer Bauart davor und der Gehweg am Haus des Optikers war von Trümmern übersät gewesen. Durch das viele Lesen in der Bibliothek waren ihre Augen ein wenig kurzsichtig geworden: die historische Abteilung der Universität Mayotte befand sich noch im Aufbau, deshalb hatte sie jedes neueingegangene Werk begierig verschlungen, sobald es aus Paris oder London eingetroffen war.
Während sie ihre Brille aufsetzte und prüfend zum Gehöft hinübersah, ging in einem Fenster des ersten Stockwerks das Licht an.
Ein vorgebeugter Schatten – fast so groß wie ein Mensch, aber mit seinen überlangen Armen merkwürdig hin und her schwenkend – bewegte sich hinter der Gardine.
Es wird dieses Untier sein, dachte sie schaudernd, das Präsident Burundi Karlsbeck einst für hervorragende Verdienste um den jungen Inselstaat geschenkt hatte. Auf Mayotte wie auf den übrigen Inseln des Komorenarchipels gab es nur Lemuren, eine Halbaffenart.
Der Orang-Utan war als junges Tier aus Borneo in den Zoo von Madagaskar gelangt, ehe man ihn auf die nördlich gelegene Nachbarinsel gebracht und dem Präsidenten als Staatsgeschenk überreicht hatte, um – bei Burundis konservativer Haltung nur eine Farce – «gutnachbarliche Beziehungen» zu demonstrieren.
Im stillen hatte sie gehofft, das Tier sei längst gestorben, eingegangen am kalten Klima dieses Landes. Noch heutzutage, nach so vielen Jahren, die vergangen waren, seit er den Archipel verlassen hatte, munkelte man auf Mayotte hinter vorgehaltener Hand, Karlsbeck «unterhalte intime Beziehungen» zu dem Tier.
Natürlich war es nur ein Gerücht. Doch so wenig es den schwarzen Kreolen gegeben war, zwischen Wahrheit, Gerücht oder Erfindung einen größeren Unterschied zu machen, so wenig konnte auch sie sich von der schon beinahe zwanghaften Vorstellung befreien, es sei doch mehr als nur ein Körnchen Wahrheit daran.
Sicher erzählte man es vor allem aus Langeweile: weil es sonst wenig zu erzählen gab, auch weil es seit Burundis Machtübernahme schlecht um die Meinungsfreiheit bestellt war – und weil es pikant erschien und den Schatz der Anekdoten um Karlsbeck und seine Arbeit auf den Inseln vermehrte.
Es gab nicht viele solcher Geschichten. Die Alten saßen vor ihren niedrigen Häusern, stülpten anzüglich ihre Negerlippen und schwatzten auf Kisuaheli in immer neuen Varianten darüber, ob es möglich sei, dass aus einer solchen Verbindung ein menschenähnliches Wesen hervorgehe.
Das große ferne Deutschland musste in ihrer Phantasie längst von einem ganzen Heer langarmiger, halbaffenartiger Geschöpfe mit rötlichem Fell bevölkert sein – sie waren große Geschichtenerzähler, die Wirklichkeit bedeutete ihnen nicht so viel wie ihre Geschichten über sie; womöglich gab es so etwas wie «die Wirklichkeit» gar nicht und alles, was wirklich genannt werden konnte, bestand aus nichts weiter als den Geschichten, die man darüber erzählte – jenen verzerrten subjektiven, von Glauben, Vorurteilen, Argwohn, Hoffnungen und Missverständnissen geschaffenen Hirngespinsten.
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