Der arabische Anteil der Bevölkerung dagegen schwieg, weil er Karlsbeck nicht einmal einer Anzüglichkeit für wert erachtete.
Zweifellos hätte seine morgenländische Phantasie diejenige der schwarzen Kreolen vom afrikanischen Festland noch übertroffen.
Und weil er mit der sozialistischen Volksrepublik Mozambique vor der Haustür und dem marxistisch ausgerichteten System auf Madagaskar sympathisierte: die Araber hatten immer geargwöhnt, Karlsbeck arbeite als Deutscher mit der ehemaligen französischen Kolonialmacht, vor allem aber mit den Engländern zusammen, deren Plan es lange Zeit gewesen war – und nicht einmal die Queen mochte wissen –, ob sie ihn wirklich schon ganz aufgegeben hatten, auf Mayotte einen strategisch wichtigen Luftstützpunkt zu errichten, nachdem sie es so lange vergeblich auf den benachbarten Seychellen und den Aldabra-Inseln versucht hatten.
Auch in zwei Parterrefenstern nahe der hölzernen Veranda war jetzt das Licht angegangen. Sie lief rasch über den federnden Wiesengrund und blickte – vorsichtig – von der Seite durch die staubige Scheibe in das Zimmer.
Karlsbeck – sie nahm an, dass es Karlsbeck war (er sah genauso alt und hässlich aus, wie man ihn ihr beschrieben hatte) – stand unter der Lampe mit dem schmalen Metallschirm vor einem Holztisch und goss aus einer dickbauchigen grünen Flasche etwas durch den Trichter in seiner Hand. Die Spitze des Trichters steckte in einer zweiten Flasche, die flach und klein war: von dem Format, das in die Innentasche einer Jacke passte.
Eine wasserhelle Flüssigkeit. Sicher Schnaps! – denn auf der Insel hatte er sich das Schnapstrinken angewöhnt.
Er bevorzugte eine Sorte aus seiner ostfriesischen Heimat. Während seiner Jahre auf Mayotte war jeden Monat am Kai von Dzaoudzi ein Karton davon ausgeladen worden.
Fast alle Europäer in den heißeren Ländern tranken, das war nicht ungewöhnlich und ein Mann, den die Geheimdiensttätigkeit die besten Jahre seines Lebens gekostet hatte, trank erst recht. Er würde bei dieser Arbeit schon aus verständlichen Gründen der Nervenanspannung für einige Stunden entfliehen wollen, wenn sich eine Gelegenheit dazu bot.
Vor der Wahl Burundis hatten sich auf Mayotte Russen, Chinesen, Amerikaner, Engländer die Türklinken in die Hand gegeben, von den Franzosen ganz zu schweigen. Es geschah nicht selten, dass man jemanden, der – zu Recht oder zu Unrecht – für den Agenten einer gegnerischen Macht gehalten wurde, in den Bergen beim Angeln erschossen auffand, dass er bei einem Bootsausflug ertrank oder wie zufällig von einem aus dem Fenster fallenden Blumentopf getroffen wurde.
Da Karlsbeck eine ausgesprochen misanthropische Ader besaß, war der Alkohol gewiss sein einziger Freund. Es hieß, er habe damals im Garten seines Hauses in Dzaoudzi immer einen kleinen Schnapsvorrat vergraben gehabt. Für schlechte Zeiten.
Das Haus war jetzt im Besitz der Familie jener Lehrerin, mit der er bis zu ihrem gewaltsamen Ende zusammen gelebt hatte; eines der typischen kleinen gelbgestrichenen Häuser mit umbautem Innenhof und einem hübschen Garten darin. Sie war einmal dort gewesen, weil sie sich ein Bild von Karlsbecks Vergangenheit machen wollte.
Die Lehrerin war bei Gefechten im Gebirge umgekommen, sie hatte Schulkindern über einen Bachlauf geholfen, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen.
Eine Kugel aus den Läufen jener Partisanen, so hieß es, die später die verbotene Partei MMM – marx. Mouvement Militant de Mayotte – gegründet hatten.
Doch es gab Gründe für die Annahme, dass es in Wirklichkeit Burundis Leute gewesen waren, die den Sozialismus bei den Einheimischen in Verrufbringen wollten. Sie würde aber nicht so dumm sein, Karlsbeck das jetzt auf die Nase zu binden – es hätte Verdacht erregen können.
In jenen Jahren hatten sich die Komoren noch nicht vom französischen Mutterland losgesagt.
Jedermann ahnte oder wusste, dass es bald geschehen würde und traf Vorkehrungen für die wirtschaftliche Depression, die in aller Regel eintritt, wenn eine kleine Inselgruppe selbständig wird.
Wie erwartet, hatten sich diese Schwierigkeiten noch verschärft, weil Mayotte anders als die übrigen Komoreninseln den Status eines französischen Departements anstrebte und deshalb mit seinen Nachbarn im Streit lebte. Erst seit Burundis Amtsantritt – und gegen sein Wahlversprechen – war dieser Plan nach und nach aufgegeben worden – man hatte ihn sich sozusagen im heißen Klima der Insel totlaufen lassen.
Kaum eine Idee und schon gar nicht der Anschluss an ein fernes Mutterland, war der Trägheit gewachsen, die sich fast zwangsläufig in diesem heißen und feuchten Klima einstellte, wenn man nicht gerade wie Burundi in einer Villa mit Klimaanlage oder im kühlen Präsidentenpalast residierte.
Sie blickte wieder durch die Scheibe. Karlsbeck war erst neunundfünfzig. Im Schein der trüben Lampe sah er aus, als sei er weit in den Sechzigern. Gewiss lag es am Schnaps. Seine Miene wirkte hölzern und unbeteiligt, wie ein alter morscher Baum, der des Lebens überdrüssig war, dachte sie. Ein Baum, der kein Wasser mehr zog, keine Blätter mehr trieb und nur noch darauf wartete, von Ameisen und Käfern ausgehöhlt, in sich zusammenzustürzen. Langeweile stand ihm im Gesicht.
Es hieß, die Arbeit auf Mayotte sei sein letzter Auftrag gewesen. Sein unförmiger Bauch hing in Hosenträgern aus maisgelbem Gurtband in einer zu weiten grauen Hose; er trug ein kurzärmeliges, kariertes Flanellhemd. Sein dichtes graues Haar über der niedrigen Stirn – dicht wie ein Affenpelz – war kurz geschnitten.
An seinem Kinn, das zur Schwammigkeit neigte, glänzten weißgraue Bartstoppeln. Nur seine scharfe Nase, wie ein Widerhaken oder der Schnabel eines Papageis, ragte als Fremdkörper aus dem gedunsenen Gesicht.
Seine Hose ist fleckig ... dachte sie voller Abscheu. Herrgott noch mal, er braucht jemanden, der für ihn sorgt … Und sie verspürte nicht die geringste Lust, dieser jemand zu sein.
Er schien etwas zu grunzen. Durch die verschmierte Scheibe sah sie, dass sich seine Lippen wie das Maul eines Wasser schöpfenden Fisches bewegten; endlich kratzte er sich unschlüssig an der Wange und legte die gefüllte Flasche auf den hohen, altmodischen Schrank, an dem auch seine Jacke hing.
Dann nahm er eine Zeitung aus der Innentasche, betrachtete kopfschüttelnd das Foto auf der Titelseite und ging damit zur Zimmertür.
Er schaltete das Licht aus. Sie beobachtete, wie er eine steile, finstere Treppe hinaufstieg. Als er an ihrem oberen Ende verschwunden war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte sie sich ab.
Der Mond stand jetzt hoch über dem Fluss mit den alten Eichen und Ulmen und warf sein kühles Silberlicht auf die Veranda mit dem durchbrochenen Geländer, den abgetretenen, unlackierten Brettern, die ihren Boden bildeten und einen ebenso abgegriffenen Mahagoni-Schaukelstuhl, der dem Wasser zugekehrt stand. Der Fluss war kaum mehr als fünfzehn oder zwanzig Schritte entfernt.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie Karlsbeck an warmen Sommerabenden in diesem Schaukelstuhl saß, verloren über die träge Strömung mit der Einmündung der verkrauteten Altarme fern am anderen Ufer starrte und den alten Geschichten nachhing … diesen Geschichten, die ein Geheimnis bewahrten , das Ahmed Abdallah Burundi für immer bei den Inselbewohnern in Verruf bringen würde (so glaubte sie zumindest).
Dass das Gedächtnis dieses Mannes – so weit entfernt von Mayotte, beinahe auf der entgegengesetzten Seite des Planeten – vielleicht als einziges die volle, die ganze niederträchtige Wahrheit, wie auch immer sie aussehen mochte, bewahrte, erschien ihr mit einemmal äußerst seltsam.
Es gab eine Wahrheit; aber nicht einmal Gott – der sich schließlich noch um andere Dinge als um eine unter zahllosen Wahlbetrügereien oder einen fingierten Selbstmord zu kümmern hatte – würde sie unbedingt der Aufbewahrung in seinem Gedächtnis für wert erachtet haben – Karlsbeck dagegen ganz gewiss.
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