Karlsbeck lachte verächtlich.
«Die Alten auf Mayotte erhoffen sich von ihren Kindern wahre Wunder. ’Göttin der Jagd’ kann natürlich alles mögliche bedeuten – wen jagen Sie denn?», fragte er anzüglich. «Gewöhnlich sind es die weißen Kolonialherren, die aus dem Land gejagt werden sollen ...»
«Ich glaube nicht, dass es etwas damit zu tun hat», wehrte sie ab. «Mein Vater kam übrigens im Sturm mit seinem Segelboot um, draußen vor der Küste von Anjouhan – vor einem halben Jahr.»
«Wie traurig», meinte er, ohne dass sich seine Miene sonderlich änderte. Sie ahnte, was er dachte: Diese dicken, gutmütigen, ja mütterlichen Negerweiber fanden rasch einen neuen Mann. Meistens dauerte die Trauerzeit nicht sehr lange.
Der nächste Sturm blies den Geist des Toten vom Benara, dem höchsten Gipfel der Insel, wo er dem Mythos nach eigentlich drei Jahre lang auf der Lauer zu liegen hatte, um über die Treue der Witwen zu wachen. In dieser Region der Erde bliesen oft starke Winde und die Geister der Verstorbenen konnten sich nicht so lange auf den Berggipfeln halten, wie es ihnen dem Brauch nach aufgetragen war.
Sie schwiegen.
«Mein jüngerer Bruder heißt Marcel», sagte sie etwas linkisch in die Pause, weil sein Schweigen sie irritierte.
Karlsbeck zeigte auf einen Korbsessel neben einer Ablage, auf der ein Blumentopf stand, in dem sich merkwürdigerweise nichts als Erde befand. «Sie sind also über die Wiesen gekommen?», stellte er fest.
«Ich … über – wieso?»
«Wegen Ihrer Schuhe. Sie sind feucht und lehmig.»
Offenbar war es seine langjährige Übung, auf solche Kleinigkeiten zu achten und daraus seine Schlüsse zu ziehen – er besaß den Spürsinn eines Polizeihundes … Ich muss mich vor ihm in Acht nehmen!, ermahnte sie sich.
«Man sagte mir im Gasthaus, es sei eine Abkürzung.»
«Sie haben dort ein Zimmer genommen?»
«Leider ist es nur für eine Nacht frei.»
«Die Zimmer in dieser Gegend sind fast immer von durchreisenden Vertretern belegt, wegen der Romantik der Dörfer im flachen Emsland», sagte er mit merkwürdiger Betonung. «Deshalb meiden sie die Hotels der großen Städte.»
Ein abfälliges und zugleich gelangweiltes Lächeln zog über sein Gesicht. Er machte sich wohl nichts aus Romantik.
«Wenn man länger hier lebt, bleibt nicht viel davon übrig.»
Sie nickte, als sei das von irgendeinem Interesse für sie.
«Ein wenig Tee?», erkundigte er sich. «Ich habe leider nichts anderes im Haus.»
Das war offensichtlich eine dumme Lüge. Warum sagte er so etwas?
Schließlich hatte sie ihn beim Umfüllen der Flasche beobachtet. Möglich, dass er es von den Kreolen auf Mayotte gelernt hatte, diesen großen Geschichtenerzählern, denen die Wahrheit nicht mehr bedeutete als ein lästiges Hindernis auf den verschlungenen Wegen ihrer Phantasie.
«Ja, Tee. Gern.»
Er erhob sich und ging schräg durch das Zimmer. Ihr Blick folgte seinem Gang, der ein wenig schlurfend war. Die Küche befand sich nebenan. Sie war allein, aber sie sah das Lichtviereck aus der Tür in den Korridor fallen und hörte Karlsbeck mit dem Geschirr hantieren. Der Raum machte einen eigentümlich kahlen Eindruck, obwohl er vollständig möbliert war.
Es hing sogar ein Bild an der Wand: ein Gemälde in einem prunkvollen Goldrahmen, das eine strahlend gelbe Sonnenblume zeigte. Etwas kitschig … dachte sie. Es dauerte eine Weile, bis sie darauf kam, was das Zimmer so kahl machte … die Bücher fehlten!
Es war auch nirgends eine Zeitung oder Zeitschrift zu entdecken, nicht einmal eines dieser billigen pornographischen Magazine, die allein lebende Kerle seines Alters gewöhnlich irgendwo herumliegen hatten.
Die zusammengefaltete Zeitung in der Innentasche seiner Jacke fiel ihr ein. Ihr eigenes Zimmer in Dzaoudzi war vollgestopft mit Büchern, obwohl es nur wenige Schritte von der Universitätsbibliothek entfernt lag. Sie bezog auch regelmäßig die historischen Fachzeitschriften aus Paris und London; sogar jene, die sich kaum mit Entkolonialisierungspolitik oder den Problemen befassten, die der Kapitalismus und die unvermeidliche Korruption in seinem Gefolge nach sich zog.
Es war natürlich die Aufgabe der historischen Abteilung, sich nicht nur mit den eigenen Problemen zu beschäftigen. Allerdings gab es ein erschreckendes Übergewicht der europäischen Geschichte und die wenigen zumeist farbigen Studenten, die sich bisher immatrikuliert hatten, sahen das sogar als ganz natürlich an.
Ihr historisches Verständnis der eigenen Probleme musste erst noch geweckt werden.
Dr. Husain Atasi, ein Araber syrischer Herkunft und der einzige Dozent der Abteilung, schien ihr dazu kaum der geeignete Mann:
Sein Verständnis der Geschichte der Inseln im Indischen Ozean war eher konservativ.
Obwohl man an der Pariser Universität sogar erwogen hatte, ihm den Doktorgrad abzuerkennen – wie gemunkelt wurde, wegen einer zweifelhaften Publikation, die verdächtig nach geistigem Diebstahl aussah – ‚ sympathisierte er noch immer stark mit dem französischen Mutterland.
Er war einer der treuesten Anhänger des Volksentscheids von 1976, wonach sich die Bevölkerung von Mayotte – anders als auf den übrigen Komoreninseln – für den Verbleib bei Frankreich ausgesprochen hatte.
Seit damals gab es jene Bestrebungen, die jetzt offenbar im Sande verliefen, den Status eines französischen Departements anzunehmen. Atasi verehrte Frankreich, als sei es die Wiege der Zivilisation. Es war fast peinlich, das mit anzuhören. Er verstand sich besser auf französisch als in Kisuaheli auszudrücken, der Umgangssprache.
Er übersah geflissentlich die Korruption der ehemaligen französischen Verwaltungsbeamten und die Vetternwirtschaft der kreolischen Oberschicht. Und er schien nichts von Schweige- und Handgeldern und von der Ungerechtigkeit der Landverteilung oder der Manipulation der Preise für Reis, Vanille und Ylang-Ylang zu bemerken.
In dieser Beziehung stellte er sich blind und taub. Alles war gut, wenn es nur blieb, wie es war. Die Geschäfte mit amerikanischen und europäischen Hotelkonzernen, denen zur Förderung des Fremdenverkehrs Land zu Schleuderpreisen überlassen worden war – über entsprechende Schmiergelder, versteht sich –, ließen ihn kalt.
Dabei würde die Insel niemals erfolgreich dem Vorbild der Seychellen nacheifern können, denn deren Vorsprung im Touristikgeschäft war zu groß, außerdem boten sie bessere Voraussetzungen. Alles, was Atasi interessierte, schien der erste Lehrstuhl für Geschichte der Universität zu sein und dabei hoffte er auf die Unterstützung Präsident Burundis.
Sie mochte Atasi nicht sonderlich, aber er war ihr Chef: Sie verhielt sich ihm gegenüber loyal, soweit sich das unter den gegebenen Umständen bewerkstelligen ließ.
Doch er wusste, dass es eine Loyalität ohne die geringste Überzeugung war und dass sie nur gute Miene zum bösen Spiel machte. Er gab ohne Umschweife zu, dass er Ideale «lächerlich» fand und sich im Zweifelsfalle immer für den – wie er es nannte – pragmatischen Weg» oder «die Position des neutralen Wissenschaftlers» entschied.
«Diana», hatte er einmal mit spitzer Zunge bemerkt, «Sie und Ihr Bruder passen nicht auf diese Inseln, die von Hitze und schwerem Blut geprägt sind. Es ist Ihre deutsche Abstammung, die Sie so rastlos macht. Promovieren Sie in Ruhe! Stecken Sie Ihre Nase in Fachzeitschriften und Geschichtswerke, setzen Sie sich für die Wissenschaft ein, das bekommt Ihnen besser als revolutionäres Gerede. Ihre Ideen werden hier niemals eine Mehrheit finden.»
Doch darin irrte er. Sie war sicher, dass er sich irrte.
Während er so sprach, saß er in dem kleinen, weißgekalkten Zimmer, das man über die hölzerne Außentreppe und das Flachdach der ehemaligen Schule erreichte, vor seiner altmodischen hohen Schreibmaschine und sah sie aus seinen leicht schielenden, schrägen Augen an wie die Schlange vor dem Biss.
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