Er zog mit beiden Armen die Vorhänge auseinander, blickte eine Weile schweigend in die Dunkelheit hinaus – kopfschüttelnd, als halte er vergeblich nach jemandem Ausschau – und murmelte etwas, das wie «verdammtes Vieh . . .» klang. Sie hätte schwören können, dass sie sich nicht verhört hatte.
«Leider ist mein Zimmer im Gasthaus nur für eine Nacht frei. Aber vielleicht wäre es möglich, dass ich hier im Haus …»
«Ausgeschlossen», sagte er abweisend.
«Es wäre nur für…»
«Sie sehen ja selbst, wie es um das Haus bestellt ist. Es ist feucht und dunkel – baufällig . Hier gibt es keinerlei Komfort. Überall rascheln Mäuse und die Wasserleitung funktioniert nur, wenn sie will.»
«Nun ist es wohl auch schon zu spät», lenkte sie rasch ein. «Ich werde mich jetzt besser auf den Rückweg machen. Wäre es Ihnen morgen Nachmittag gegen drei Uhr recht? Wir könnten dann bis zum Abendessen arbeiten.»
«Drei wäre mir recht», nickte er.
Er ging zum Schrank und kramte nacheinander in den Schubladen, bis er einen Zettel gefunden hatte. Dann beleckte er die Spitze des Bleistiftstummels und schrieb mit unbeholfenen Fingern. Sie folgte neugierig den Schnörkeln und Arkadenbögen seiner Handschrift – der Bogen des g‘s war wie eine unförmige Seifenblase.
«Ich schreibe Ihnen hier einige Adressen auf, wo Sie vielleicht unterkommen können, wenn im Gasthaus kein Zimmer mehr frei ist. Es sind ehemalige Mitarbeiter …»
Plötzlich hellte sich seine abweisende Miene auf und ein Grinsen zog über sein Gesicht. Er legte verschwörerisch den Zeigefinger vor die Lippen.
« Abgehalfterte, ausgediente Agenten wie ich! Man überlässt ihnen ein Häuschen, je nachdem auch eine kleine Gastwirtschaft, eine Gärtnerei oder Pension, wo sie ihren Lebensabend zubringen können, ohne an Langeweile zu sterben oder auf abwegige Gedanken zu kommen.
Haben Sie sich schon einmal gefragt, was mit Leuten unseres Schlages passiert, wenn sie das Pensionsalter erreichen? Wenn ihre alten Knochen lahm und müde geworden sind und sie anfangen, schwerer zu begreifen, oder wenn Gedächtnis und Gehör nachlassen? Nein, natürlich haben Sie noch nicht darüber nachgedacht!
Warum sollten Sie auch? Ich kenne einige, die mittlerweile fast taub sind, man könnte neben ihrem Ohr eine Achtunddreißiger entsichern, ohne dass sie herumfahren.
Dies ist einer der merkwürdigen Orte, an denen wir ausruhen können. Sie werden noch ein paar andere üble Gesellen kennenlernen, wenn Sie länger bleiben. Es gibt nicht viele solcher Dörfer – in jedem Land vielleicht eines oder zwei. Natürlich dürfte ich gar nicht darüber reden – aber anscheinend neigen alte Kerle in Gegenwart eines hübschen Mädchens zur Geschwätzigkeit. Da Sie von so weit her kommen, werden Sie wohl nicht gleich mit Ihrem Wissen hausieren gehen, oder?»
Sie schüttelte nur stumm den Kopf.
«Man lässt uns also hier das Gnadenbrot essen. Ein ausgezeichneter Platz, weil wir auf kleinem Raum unter Kontrolle bleiben!
Im Prinzip sind wir natürlich frei und können gehen, wohin wir wollen. Man ködert uns mit gewissen Vorteilen, finanziellen und anderen. Land ist sehr billig, Grundsteuern entfallen. Dieser ehemalige Hof hier hat mich kaum zwei Drittel seines tatsächlichen Wertes gekostet – mit Speck fängt man Mäuse. Außerdem ist es sicherer.
Wir sind ja alle mehr oder weniger Geheimnisträger. Ich bin der einzige in der Gegend, der so weit draußen wohnt. Für den Verfassungsschutz ist das Gelände ideal.
Auf der einen Seite befindet sich der Fluss und im Norden und Süden gibt es nichts als Weiden, von den paar Gehölzen, die man kaum Wäldchen nennen würde, einmal abgesehen. Die nächste größere Stadt ist zwanzig Kilometer entfernt, so kann man mysteriöse Figuren leicht unter Beobachtung halten.
Sie finden sich von Zeit zu Zeit hier ein wie die Geier beim Aas, um abzuwerben, oder weil sie hinter alten, aber immer noch wertvollen Informationen her sind. Auf dem Land fällt jeder Fremde sofort auf. Aber machen Sie sich nicht zuviel Sorgen deswegen. Ihrem Wirt zum Beispiel können Sie durchaus vertrauen, er sieht zwar aus wie ein Meuchelmörder, hat aber niemals in Staatsdiensten gestanden.»
Karlsbeck schwieg und musterte sie amüsiert.
«Das hätten Sie nicht für möglich gehalten, hab ich recht? So ungläubig, wie Sie dreinschauen …!»
Er betrachtete lächelnd seine Hände. «Ich denke, selbst Majunga, der allwissende Sekretär des Präsidenten, wusste nicht, wohin er Sie schickte. Auch drüben im Dorf geht natürlich niemand mit diesen Dingen hausieren, es sind überwiegend ehrsame und arglose Bürger, die nichts von uns ahnen. – Deshalb sollten Sie auch darüber schweigen und nicht versuchen, ihnen die Nachtruhe zu rauben … es würde mich sonst in Schwierigkeiten bringen.
Der Polizeiposten gegenüber der Bank hat immer ein wachsames Auge auf die Durchreisenden.
Wussten Sie, dass echte Touristen kaum zu verwechseln sind? Sie haben eine Art, den Altar der Dorfkirche anzugaffen oder über die Treppchen der Weidenzäune zu klettern, die kaum zu imitieren ist. Nach zwei, drei Tagen wird man auch Sie argwöhnisch beäugen, womöglich folgt Ihnen hier und da eine dieser allzu unauffällig gekleideten Gestalten im Trenchcoat. Lassen Sie sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen.
Ihre Arbeit ist ja ganz legitim. Dies hier ist schließlich nicht Mayotte.»
Er reichte ihr den Zettel …
Verknöcherter alter Junggeselle! Elegant hinausbefördert – wahrscheinlich, weil er mit seiner Äffin allein sein will, dachte sie wütend, nachdem sich die Haustür hinter ihr geschlossen hatte.
Sie machte sich auf den Weg zurück ins Dorf. Diesmal ging sie die asphaltierte Straße entlang.
Als sie erwacht war, fiel ihr der Zettel ein. Sie lag noch eine Weile in ihrem zerknautschten Kattunkleid neben dem zur Seite geschlagenen Oberbett da, nur das weiße Laken unter sich, auf der Seite und gekrümmt. Sie hatte schlecht geträumt und dachte:
Mein Gott, ich liege hier wie ein hilfloser Embryo! Was soll erst werden, wenn es richtig losgeht – wenn ich jetzt schon verkrampft bin und an Alpträumen leide?
Die Sonne stand ins Zimmer, das feuchte Gewölk vom Vortage war abgezogen und unvermittelt wurde sie sich der Schwüle bewusst. Sie blickte matt über die Bettkante. Im einfallenden Licht wirbelte mikroskopisch feiner Staub – winzige, glitzernde Pünktchen, rastlos, unaufhörlich – und dabei doch auf der Stelle tretend – der tote Punkt in der Bewegung der Dinge, noch kein wirklicher Endpunkt, doch am Ende vergleichbar.
Plötzlich sah sie Karlsbecks Gesicht vor sich und dann war es, als blicke sie durch seine Augen – oder stellte sie sich das nur vor?
War es denn nicht möglich, dass er wie sie dalag und über die Bettkante auf den wirbelnden Staub in das Sonnenlicht starrte …?
Sie sah wie er den Stillstand, noch nicht den endgültigen Niedergang, aber die Totenruhe, in der sich die Dinge zwar bewegten, doch ohne wirklich etwas zu bewegen.
Ein alter Mann, der alles hinter sich hatte und gewiss mit Resignation zurückblickte – und der Ernüchterung, sehen zu müssen, dass ein Leben nichts zu ändern vermocht hatte, weder die Welt noch seinen eigenen jämmerlichen Zustand.
Zu mehr als diesem morschen Gehöft hatte es nicht gelangt. Es war nicht der Mühe wert gewesen.
Die Luft flirrte vor Aktivitäten, aber sie sah es durch seine Augen – gelangweilt, überaus gelangweilt. Es schwirrte wie Kinderlärm über einem Schulhof, eine Wolke von Geschwätz, aber nur als fernes Gesumme, entäußert und nutzlos, überflüssig wie der quirlende Staub.
Was ist mit mir? dachte sie benommen und versuchte den Eindruck abzuschütteln. Sie hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund. Ich habe schlecht geträumt. Ich bin noch ein wenig verschlafen; die lange Flugreise ... der Klimawechsel.
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