Wenn es nicht nur ein Gerücht war, das die Kreolen mit ihrem unaufhörlichen Hang zur Übertreibung in die Welt gesetzt hatten, dann verfügte er über eines jener seltenen Gedächtnisse, die nichts von dem, was sie behalten wollen, jemals wieder vergessen.
Sie fröstelte, obwohl es Sommer war, was man hier Sommer nannte ... der kalte Dunst vom Flussufer kroch ihr die Beine hinauf. Und sie fröstelte um so mehr bei dem Gedanken, nun die Gefangene ihres Vorsatzes zu sein.
Ich muss hinein, überlegte sie. Es nutzte gar nichts, ihre erste Begegnung noch länger hinauszuzögern.
Fremden gegenüber hatte sie immer eine gewisse Scheu besessen. Ihr Bruder Marcel witzelte darüber.
Er sagte: «Geh und sprich ein paar Leute auf dem Markt an, Araber und Inder, keine Mulatten oder schwarze Kreolen, weil sie zu gesellig sind – das wird dir helfen. Wenn du alle Fremden im Ort angesprochen hast, ist deine Schüchternheit verflogen – dann gibt es niemanden mehr, dem du unbekannt bist …»
Dieses Scheusal, dieser kleine Witzbold! dachte sie.
Doch sie hätte einiges darum gegeben, jetzt seine Stimme zu hören.
Er war einen guten Kopf kleiner und sehr zierlich, mit viel dunklerer Haut. Insgeheim vermutete sie, dass gar kein weißes Blut in seinen Adern floss, dass er kein Mulatte war, sondern einen schwarzen Vater besaß. Doch darüber wurde in der Familie nie gesprochen; jedenfalls kein Kerl, der ein schweres Gewehr tragen und damit zielen konnte, ohne zu zittern: Sein Ehrgeiz war stärker als seine Arme.
Sie hätte etwas darum gegeben, ihn jetzt zu sehen ... oder vielleicht doch nicht? Es hing davon ab, wie er zugerichtet worden war.
Obwohl es ihr selbst lächerlich erschien, ging sie noch einmal die Veranda entlang. Unter ihren Schritten federten die dünnen, abgetretenen Bretter. Es war ausgetrocknetes Holz, auf das lange die Sonne geschienen haben musste.
Sie lehnte sich über das Geländer auf der anderen Seite und sah an der Hauswand entlang: zwischen den beiden verwaschenen Schuppen und dem mit einem geteilten Holzdeckel verschlossenen Brunnen hindurch und dann den Wiesenpfad hinauf bis zum Tor, das nur noch an einer Angel hing – schräg und halb offenstehend.
Der Dorfkirchturm hob sich jetzt im Osten als kaum merkliche Silhouette vom grauschwarzen Himmel ab.
Nicht weit von ihm lag das Gasthaus, in dem sie ihr Zimmer genommen hatte. Ein schmales, schlauchartiges Zimmer mit einer hohen Decke, dem Geruch von Scheuermitteln und alten Möbeln und mit einem bauschigen Federbett in dem hölzernen Bettgestell, das aussah, als stände es in einer Puppenstube. Sie versuchte sich an den Namen des Dorfes zu erinnern …
Geeste – merkwürdigerweise entfiel er ihr immer wieder. Ihr Vater hatte fast nur Deutsch mit ihr gesprochen. Einiges blieb so ungewohnt, dass sie es trotzdem wieder vergaß. Es waren fremde Laute, obwohl sie es beinahe ebenso gut wie Kisuaheli und Französisch sprach. Der lebendige Atem fehlte.
Dann wandte sie sich ab, die kleinen Fäuste geballt. Man muss gemein sein können, um das Gute zu erreichen, dachte sie entschlossen, ging zum Eingang hinüber – und stieß prompt eine leere Flasche um …
Sie hatte im Schatten des Schaukelstuhls gestanden. Daneben lag eine jener überlangen Lesepfeifen mit gebogenem Mundstück, die ihr früher oft bei den durchreisenden englischen Händlern der Inseln aufgefallen waren und eine Dose Tabak. Als die Flasche über das Holz rollte und von der Kante auf die Steinplatten des Weges fiel, der zum Flussufer führte, war deutlich zu hören, dass ihr Glas zersprang …
Sie hielt den Atem an und kam sich vor wie eine Einbrecherin. Aber im Haus rührte sich nichts, die dicken alten Mauern verschluckten den Lärm.
Oh Gott, es wird schrecklich! dachte sie. Ich bin dem allen nicht gewachsen …
Sie musste es einfach nur als das sehen, was es war: ein Vorsatz – nein, ein Auftrag, den man erledigte wie andere schmutzige Arbeiten auch – wie der Händler auf dem Markt von Dzaoudzi, der den Fischen den Bauch aufschnitt und mit bloßen Händen ihre Innereien ausnahm, während auf den umliegenden Dächern schon geduldig die Reiher darauf warteten.
Sie schlug mit dem altmodischen Eisenklopfer gegen die Tür – Rost, Staub und abgesplitterter brauner Lack blieben in ihrer Hand zurück. Angewidert streifte sie ihre schmutzigen Finger am Kleid ab. Der Klopfer musste seit undenklichen Zeiten nicht mehr benutzt worden sein. Nachdem sie ihn fallen gelassen hatte, horchte sie seinem Klang nach: wie Glockenklänge schienen die Schläge im Haus nachzuhallen, so als verwöben sie unwiderruflich die zwar noch unwirkliche, aber schon nicht mehr umkehrbare Zukunft mit dieser Gegenwart … wie eine Spinne, die mit «Schallfäden» ihr Opfer umspann, dachte sie voller Unbehagen.
Von drinnen war endlich eine Antwort zu hören: eine tiefe Stimme, die sich unwirsch meldete, als sie die Türklinke niederdrückte.
Schwere Schritte erklangen auf der Treppe; dann das Geräusch des Schlüssels in der Tür, und noch einmal ein Schleifen von Metall – ein Riegel offenbar, der zurückgezogen wurde, aber nur widerwillig nachgab.
Dabei war es, als unterhalte sich Karlsbeck immerzu mit sich selbst, als suche er vergeblich nach etwas und sei verärgert darüber, wobei er anscheinend mehr stolperte als ging, denn der mürrische Klang seiner Stimme, der jedem Poltern folgte, riss nicht ab.
«Es ist das verdammte Licht im Treppenhaus», erklärte er, nachdem er geöffnet hatte und hob eine Petroleumlampe so hoch über seinen Kopf, dass der Schein ihr ins Gesicht fiel. «Die Leitung ist durchgebrannt, sie konnten den Fehler noch nicht finden – müsste alles aufgerissen werden», fügte er hinzu.
Dabei zeigte er mit dem Daumen auf die dunklen Wände hinter sich im Treppenhaus.
«Diana Hirsch», sagte sie und streckte zögernd ihre kleine Hand aus. «Von Mayotte. – Amals Brief … Sie haben ihn doch erhalten?», fragte sie ein wenig ängstlich wegen seines erstaunten Gesichts.
«Richtig, der Brief. Ich erinnere mich – von Amal Majunga, dem immer wachsamen und allgegenwärtigen Sekretär und Berater des Präsidenten», erwiderte er spöttisch. «Kümmert sich noch immer um jeden Reiher, der auf den Inseln vom Dach fällt – oder?«
«Und schießt auf jeden Maki im Gebirge, der ihm vor den Gewehrlauf kommt», nickte sie; dabei versuchte sie zu lächeln.
«Diana Hirsch – was für ein Name …!»
Ein breites Grinsen überzog sein stoppeliges Gesicht.
«Sind Sie deutscher Abstammung?», meinte er mit einem nachdenklichen Blick auf ihre dunkle Hautfarbe. «Ich erinnere mich da an einen ‚Hirsch’, der im Hafen von Mamutzu einen winzigen Laden für Schiffsausrüstungen betrieb. Er war mit einer Negerin verheiratet.»
«Mein Vater …», bestätigte sie.
Wind war aufgekommen und fegte durch die Sprossen des Geländers und über die Veranda. Sie drückte sich mit ihrem dünnen Kattunkleid fröstelnd in den Türrahmen.
«Aber kommen Sie doch herein …»
Karlsbeck trat beiseite und senkte die Petroleumlampe. «Vorsicht, Stufe …»
Er ist nicht so unsympathisch, wie ich geglaubt hatte , dachte sie erleichtert.
Während sie in den großen ebenerdigen Raum mit einer Kaminstelle gingen, der den Grundriss eines Winkels hatte und einmal das Wohnzimmer des Gehöfts gewesen sein musste, sagte sie:
«Den Vornamen hat meine Mutter ausgesucht.»
«Natürlich, wer sonst?», lachte er.
«Er klingt ein wenig komisch, nicht wahr?»
«Die schwarzen Kreolinnen haben eine Vorliebe für solche Namen», lenkte er ein. «’Diana’ ist römisch, nach der griechischen Göttin Artemis, Tochter des Zeus und der Leto. Es bedeutet ‚Mondgöttin und Göttin der Jagd’.
Ein englischer Kranführer, ein verkommener Säufer übrigens, mit dem ich damals auf dem Staudamm arbeitete, hat mir diese Weisheiten anvertraut – für eine halbe Flasche Schnaps, versteht sich. Er kannte sich in der Mythologie aus, weil er glaubte, es gehöre zur europäischen Allgemeinbildung und darauf hielt er etwas.»
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