Ulrich Kunath - (fe:liks) oder Die Stunde des Therapeuten

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Der Ich-Erzähler ist Psychotherapeut. Er hat sich auf Krisenbewältigung und Burn-out-Syndrom spezialisiert und behandelt seit geraumer Zeit ausschließlich Privatpatienten aus dem Management und Show-Business. Er fühlt sich der High-Society zugehörig und hat sein Leben dementsprechend eingerichtet.
Eines Tages betritt ein heruntergekommener Mann, Felix Job, seine Praxis, der einst ein reicher Börsenspekulant war. Er befinde sich in einer Sinnkrise und verspreche sich vom Therapeuten Hilfe. Obwohl zunächst ablehnend, versagt sich der Therapeut nicht. Felix erzählt in mehreren Sitzungen seine fatale Geschichte. Parallel zur spannenden Erzählung seines Patienten vollzieht sich im Therapeuten langsam und unbewusst eine Veränderung, die droht, ihn aus der Bahn zu werfen und seine Familie zu zerstören.

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Ulrich W. Kunath

[f e: l i k s]

oder

Die Stunde des Therapeuten

Inhalt

Der 7. Mai

Der 8. Mai

Der 12. Mai

Der 14. Mai

Der 15. Mai

Der 19. Mai

Der 21. Mai

Der 22. Mai

Der 23. Mai

Der 26. Mai

Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter;

hier sollen sich legen deine stolzen Wellen.

Hiob,38,11

Der 7. Mai

Der Fluss der Worte gerinnt zu Zeichen auf dem Papier. Ich muss es loswerden. Ich befreie mich. Ich schreibe es auf: Ich habe versagt.

Bis zu jenem Tag, der mir unauslöschlich gegenwärtig ist, verlief mein Leben in wohl geordneten Bahnen, unangefochten und bis zu einem gewissen Grad berechenbar. Von folgenschweren Ereignissen, die im Leben eines Menschen eine Wende einleiteten, hatte ich oftmals gehört, war von ihnen selbst jedoch nie betroffen gewesen. Ich vertraute auf den unbehelligten Fortgang all dessen, was mich umgab. Dass dieses Vertrauen erschüttert werden könnte, befand sich außerhalb meiner Vorstellungskraft. Ich ruhte in mir und fühlte mich dadurch abgeschirmt von Missgeschicken jeder Art, war sogar überzeugt, mit eingeübter Gelassenheit mich vor Fährnissen bewahren zu können.

Noch tags zuvor, einem Mittwoch, an dem ich regelmäßig etwas früher Schluss mache, hatte ich meinen dreiundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Anstatt den Abend bei Tagesschau, Lottozahlen, Wetterbericht und irgendeinem Krimi zu verbringen, gingen Stefanie und ich essen, ins Canard, dem einzigen Restaurant der Stadt, dem der Guide Michelin vier Bestecke verliehen hat. Ich ließ ein Taxi kommen, um beim Menu nicht auf Wein verzichten zu müssen. Vanessa und Mirko, unsere Kinder, wollten uns nicht begleiten. In ihrem Alter finden sie in der Pizzeria die Gaumenfreuden, und ich neige nicht dazu, sie zu etwas zu zwingen. Zur foie gras ließen wir einen Tegrino Vin Santo, einen süßen Toskaner, servieren, zum überbackenen Seeteufel einen Chablis Premier Cru.

Ein entspannter Abend, an dem ich mich erneut in meine Frau hätte verlieben können. Bemerkenswert geistreich erzählte sie von ihrer Tätigkeit in der Gemäldegalerie, von ihren Kollegen, von der bevorstehenden Ausstellung, die sie mit zu organisieren hatte und ihren Kursen für die bildungshungrigen Laien. Mit Hingabe hörte ich ihr zu, was sie sichtlich beschwingter und lebhafter werden ließ. Beflügelt von Gefühlen, wie sie Verliebten eigen sind, dachte ich. Und dabei entzog sich ihre Oberlippe wieder einmal ihrer Kontrolle und sprang ungehemmt nach vorn und oben wie der Rocksaum einer Tänzerin in der Pirouette. Stefanie weiß um diese ungezügelte Lippe und zwingt sie absichtlich ein wenig nach unten, was ihrem Gesicht oft einen unglaubwürdigen Ausdruck von Verschämtheit und Bescheidenheit verleiht. Die ungezähmte Lippe ihres Mundes mag ich. Sie fesselt immer wieder aufs Neue meinen Blick, bis mich Stefanies Ist-Was? davon losreißt. Dieses körperliche Merkmal halte ich für ein Symbol ihres Wesens: Verhaltener Übermut, gespielte Scheu, nicht geäußertes Wissen, aber blitzschnell und treffsicher geurteilt im unvermuteten Moment. Das liebe ich an ihr. Und oft überrascht sie mich, weil sie ahnt oder zu wissen glaubt, was mich beschäftigt, noch bevor ich mich ihr mitgeteilt habe. Darin sehe ich einen Beweis für unsere Zusammengehörigkeit, das feine Aufeinander- Abgestimmtsein. Ich dagegen hinke in unserer Beziehung meist etwas hinterher und erfasse nicht sofort, was in ihr vorgeht. Ich erkenne, wenn ich gewollt beobachte, gezielt erforsche, während sie gleichsam intuitiv die Umstände in sich aufnimmt.

Attraktiv sah sie in ihrem schlichten schwarzen Kleid aus, das ihre Figur, aber auch ihre langen blonden Locken betont. Spät erst kamen wir nach Hause, in dem vom Wein erzeugten herrlichen leichten Schweben und der abermals bestätigten Gewissheit, dass das Schicksal es mit uns besonders gut meinte, als es uns zusammenbrachte.

Und nicht nur unsere harmonische Ehe ließ mich bis zu diesem Zeitpunkt mit meinem Geschick zufrieden sein. Beruflich bin ich erfolgreich, möchte sagen: Ich genieße Anerkennung, ja, über die Grenzen dieser Stadt hinaus ein Renommée, und erfreue mich eines Bekanntenkreises, der unsere familiäre Geborgenheit erweitert und bereichert. Manch einer mag darüber lächeln, wenn ich dies behaupte. Doch es war tatsächlich so: Wir sind im Du verbunden, wir treffen uns regelmäßig, feiern gemeinsam Feste, machen Exkursionen, auf denen wir uns weiterbilden, und reisen. Wir sind alle Mitglieder im hiesigen Golf-Club. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, auf allen bedeutenden Golfplätzen der Welt einmal gespielt zu haben. Das ist nicht so einfach, denn man muss sich Monate im Voraus dort anmelden, und nicht jeder wird zugelassen. Mein Handicap jedenfalls auf mittelschwerem Platz liegt bei -16.

Doch ich wollte von dem Tag nach meinem Geburtstag berichten, dem 7. Mai, einem Donnerstag, der den Auftakt bildete, während die folgenden verstärkend wirkten wie bei einer Katalyse. Am Morgen noch hätte ich nicht vermutet, dass es jemals etwas geben würde, was mich, einen Psychotherapeuten, aus der Bahn werfen könnte.

Die Sonne schien auf unseren Frühstückstisch. Bereits zu dieser Stunde kündigte sich ein sehr warmer Tag an. Stefanie hatte wie immer zuvor unsere Kinder versorgt. die noch ins Gymnasium gehen. Wir selbst fangen erst gegen halb zehn mit unserer Arbeit an, wobei Stefanie sich ihre Zeit noch großzügiger einteilen kann als ich. Den SL stellte ich in der Tiefgarage ab und fuhr mit dem Lift in die 23. Etage. Hier befindet sich meine Praxis. Auf dem Schild steht Internist und Psychotherapeut. Aber ich bin nicht mehr internistisch tätig. Kaum hatte ich das Zeugnis Facharzt für Innere Medizin in der Hand, stürzte ich mich auf die Psychotherapie und betreibe sie seit nunmehr achtzehn Jahren. Die Menschen leiden heutzutage zunehmend mehr seelisch als organisch, eine Beobachtung, die ich bereits in der Klinik und während Praxisvertretungen machen konnte. Zudem fiel mir recht bald auf, wie leicht Patienten zu mir Vertrauen fassten und sich ihr Herz bei mir erleichterten. Ich spürte ihre inneren Konflikte und wie allein mein Zuhören sie wieder aufrichtete. Da wurde mir bewusst, dass ich keine Apparate brauchte, um Leidenden zu helfen. Ich strahlte Ruhe aus, versicherten sie mir. Und tatsächlich konnte mich nichts so leicht aus der Fassung bringen. Selbst die Lehranalysen, denen ich mich selbst unterziehen musste, deckten bei mir keine auffälligen psychischen Störungen oder Konflikte auf. Ich bin also aus der Inneren Medizin und nicht aus der Psychiatrie zur Psychotherapie gekommen und erblicke darin einen Vorteil: Meine Patienten sehen in mir den Arzt, der unter Umständen auch erkennen würde, wenn ein anderes als das seelische Leiden ihre Symptome verursachte. Dadurch fühlen sie sich bei mir gut aufgehoben.

Eine Bestätigung für meine fachliche Kompetenz sah ich in der rasch wachsenden Zahl meiner Patienten, die ich in meiner Psychotherapie-Praxis bald nicht mehr bewältigen konnte. Der zeitliche Aufwand für den einzelnen Patienten, die Sitzungen und die mehrmaligen schriftlichen Rechtfertigungen gegenüber den Krankenkassen, stand in keinem akzeptablen Verhältnis zur Vergütung. Ich gebe auch zu, dass ein Vergleich mit den Einkünften der Kollegen anderer Fachgebiete zu meinem Nachteil geriet. Die Ansprüche, die ich an meine Lebensführung hatte, lagen auf einem Niveau, das ich mit dem Entgelt für Kassenpatienten nie erreicht hätte: Die Mitgliedschaft im Golf-Club, unsere Reisen, Stefanies Flüge zu den internationalen Museen und Ausstellungen, das Pferd für die Tochter, Mirkos Cricket-Verein, hin und wieder der Besuch eines Feinschmeckerlokals und vieles mehr das alles kostet. Folglich beschloss ich, nur noch privat tätig zu sein.

Seit etwa acht Jahren behandele ich ausschließlich Privatpatienten, und aus dieser Klientel nur die Prominenz, und nicht nur aus dieser Stadt, aus dem ganzen Land: Manager der Industrie und des Bankwesens und Leute aus dem Show-Business. Es hat sich so ergeben, einer zieht den anderen nach. Meist helfe ich, Krisen zu bewältigen, Schaffenskrisen, das Burnout- Syndrom. Menschen, die ihre Begeisterung, ihr Engagement zu verlieren drohen. Neurotische und vor allem psychotische Patienten überweise ich an andere Kollegen. Zu schwierige Fälle sind das, meine ich, und die Heilungsrate ist gering. Die Honorare, die ich verlange, will ich hier nicht nennen. Ich treffe Vereinbarungen mit meinen Patienten und so viel darf ich sagen schätze deren Einkommen und orientiere mich daran. Von ihrer Leistungsfähigkeit hängen ihr Erfolg, ihr Verdienst, die Bonuszahlungen, die Dauer eines Vertrages ab und vielleicht noch mehr. Das weiß jeder Manager, und daher ist ihnen meine Behandlung auch etwas wert.

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