Franz Maciejewski
Echnaton
oder
Die Erfindung des Monotheismus
Zur Korrektur eines Mythos
Saga
Vorsatz hinten: Karte Vorderasien
Abb. 1: Karte von Ägypten
Tell el-Amarna oder kurz Amarna – dieser karge, auf halbem Wege zwischen Kairo und Theben am Ostufer des Nil gelegene Streifen Land – gilt heute als eine der berühmtesten Stätten des Altertums. Der Name ist ein Artefakt. Einigen arabischen Dörfern der Gegend abgewonnen, bezeichnet er für uns eine der spektakulärsten Epochen des Alten Ägypten gegen Mitte des 14. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung. Amarna, das ist die aus dem Boden gestampfte Neue Hauptstadt des geheimnisumwitterten Pharaos Amenophis IV.-Echnaton, die (wenngleich nur für kurze Zeit) zum schillernden Zentrum der damaligen Welt aufstieg, um ebenso jäh wieder unterzugehen. Amarna, so heißt der Geburtsort des nicht minder legendären Kindkönigs Tutanchamun sowie der Standort jener Bildhauerwerkstatt, in der die »bunte Büste« der Nofretete modelliert wurde. Die klangvollen Namen aus dem Sonnengeschlecht von Amarna evozieren auf unwiderstehliche Weise den Dreiklang von Geistigkeit, Reichtum und Schönheit: die prophetische Stimme eines frühen Gottkünders, das blendende Gold eines unermesslichen Grabschatzes, die strahlende Gestalt eines zeitlosen Eros – also genau jenen Stoff, aus dem sich Mythen bilden. Aber es ist ohne Zweifel Echnaton, der die Aura des Ortes bestimmt, nicht Nofret, die (noch weithin unverstandene) Schöne an seiner Seite, nicht die sich gut verkaufende Pop-Ikone Tut, dessen wieder und wieder zur Schau gestellte Schätze verlorenen Perlen ähneln, denen die Kette kulturellen Sinns abhanden gekommen ist. Die dem sogenannten »Ketzerkönig« zugeschriebene Tat, die erste monotheistische Religion der Weltgeschichte gestiftet zu haben, ist der Grund, warum die Amarna-Zeit heute zu den Sternstunden der Menschheit gezählt wird. Zumindest in der westlich dominierten Welt, die den Monotheismus als eine kulturelle Errungenschaft ersten Ranges begreift, ist Amarna zu einem besonders erinnerungswürdigen Weltkulturerbe avanciert. Die Stadt steht für den Großen Anfang. Echnaton führt die Reihe der Religionsstifter an, in der Moses, Jesus und Mohammed ihm nachfolgen.
Diese Einschätzung galt nicht von Anbeginn. Ganz im Gegenteil. Die ersten Ägyptologen unter den Entdeckern sahen in Echnaton keinen heiligen Mann, der eine neue Weltformel gefunden hatte, sondern eher einen merkwürdigen Freak, der – durch die Launen der Thronfolge an die Macht gelangt – einem obskuren Sonnenkult huldigte und das Land politisch an den Rand der Katastrophe führte. Die lapidare Beschreibung von Champollion, der auf seiner ersten und einzigen Ägyptenreise (1828) auch die Ruinen von Amarna sah, lässt Art und Ausmaß der Geringschätzung deutlich erkennen. »Le Roi très gras, gros, ventru. Formes féminines (...) grande morbidezza«. Ein missgestaltiger König war aus dem Dunkel der Geschichte ins Relief getreten, so rätselhaft wie abstoßend, dessen Erscheinung Champollion peinlich berührte und seine Kollegen und Nachfolger wahlweise an einen Eunuchen oder Transvestiten denken ließ. Ein Fremdkörper in der Ahnengalerie der großen Thutmosiden. Dieser erste Eindruck verdankte sich der Wirkung der Bild werke, etwa den Abbildungen auf den zahlreichen Grenzstelen Echnatons, welche den heiligen Bezirk der neuen Residenz Achetaton (»Horizont des Aton«) markierten. Mehr als hundert Jahre zuvor (1714) war der französische Jesuitenpater Claude Sicard bei Tuna-el-Gebel als erster Europäer auf eine der äußersten, rive gauche gelegenen Stelen des antiken Amarna gestoßen.
Abb. 2: Die Grenzstele von Tuna-el-Gebel
Er meinte ein hoch in die Wand eingelassenes Felsenheiligtum vor sich zu haben, dessen dargestellte Szene er als Opferritual von Sonnenpriestern deutete. Ironischerweise hatte auch Champollion einen eher flüchtigen Blick auf dieses Bildnis (das inzwischen mehrfach kopiert worden war) geworfen, während er doch in Wahrheit auf der Suche nach Sprach denkmälern war, um seine bahnbrechende Entzifferung der Hieroglyphen überprüfen und abschließen zu können. Erst auf der Grundlage dieser Arbeiten öffnete sich nach und nach das Fenster der Textinterpretation, und tatsächlich war es die Veröffentlichung der jetzt zugänglichen Inschriften der Amarna-Zeit, die eine Wende in der Beurteilung dieses so ungewöhnlichen Pharaos einleitete.
Der Umschlag vollzog sich mit der Übersetzung aufgefundener Hymnen. Der grundlegende Text war der sogenannte Große Sonnenhymnus, der sich in einem der Beamtengräber von Amarna erhalten hatte und die westlichen Intellektuellen sofort nach seiner Publizierung in Erstaunen, ja Verzückung versetzte. Den Anfang machte der junge amerikanische Ägyptologe James Henry Breasted (1895). Er deutete diesen Text als Ausdruck eines monotheistischen Gottesverständnisses reinster Prägung und damit als (Wieder-)Entdeckung eines überraschenden Vorläufers des biblischen Monotheismus. Dem König, den er für den »gottberauschten Schöpfer« des Hymnus an Aton, die alleinverehrte Sonnenscheibe, hielt, attestierte er eine unzeitgemäße, aber folgenreiche Modernität: »Unter den Hebräern, sieben- oder achthundert Jahre später, sind uns solche Männer nicht weiter auffällig; diesen Mann aber, der in einer so fernen Zeit und unter so widrigen Bedingungen der erste Idealist und die erste Persönlichkeit in der Weltgeschichte wurde, muss die moderne Welt erst noch seinem Werte entsprechend würdigen.« Im Aton-Glauben Echnatons mit seiner Absage an Mythos und Vielgötterei nahm, so Breasted, die Idee einer rationalen Weltreligion zum ersten Mal Gestalt an.
Breasteds Interpretation vom »revolutionären Monotheismus Echnatons« schlug ungeheuer nachhaltig in die geistige Landschaft der Jahrhundertwende ein. Ein Vorgang, wie er in der Wissenschaftsgeschichte nicht eben selten ist. Eine große Idee erobert plötzlich alle Aufmerksamkeit und steht so hoch im Kurs, dass alle wachen und aktiven Köpfe (zunehmend auch aus den Nachbardisziplinen) sich mit ihr beschäftigen und das neue Paradigma durch Zusatzhypothesen bekräftigen. Der begriffliche Mittelpunkt (hier: »Erster Monotheismus«) wächst sich so schnell zu einer attraktiven Sprachregelung aus, die durch häufiges Zitieren zirkuliert und fortlaufend bestätigt wird, während kritische Töne es schwer haben, noch Gehör zu finden. Breasted hat seine frühe Deutung in seinem vielgelesenen Buch History of Egypt (1906) noch mit eigener Hand ergänzt und verfeinert. Jetzt galt ihm der Große Hymnus nicht nur als ein solitärer »Sonnengesang des Echnaton«, sondern als größtes Überbleibsel »eines auf Papyrus niedergeschriebenen offiziellen Katechismus seiner Lehren« (den die Gegner des Königs natürlich zerstört hatten). Damit rückte der neue Monotheismus unversehens in die Nähe einer Buchreligion. Die Bühne war bereitet für die Aufführung des Fortsetzungsstücks »Gott kam aus Ägypten«, der Prospekt ausgerollt für die Darbietung der wildesten Spekulationen über die offenen und geheimen Verbindungen zwischen dem ägyptischen Ur-Monotheismus und seinen jüdischen und christlichen Nachfolgern.
Breasted ist bei der offensichtlichen Überbewertung von Text und Schriftgedächtnis nicht stehen geblieben; auf sehr einfache Weise hat er den Wert des älteren Bildgedächtnisses herabgesetzt, indem er »die seltsame Behandlung der unteren Körperteile des Königs durch die Künstler« – also jene Darstellung eines dickbäuchigen Mannes mit geschwollenen Gliedmaßen und femininen Zügen, die den befremdlichen Eindruck nervöser Dekadenz und sexueller Anomalie hervorgerufen hatte – zu einem unlösbaren Problem erklärte. Wie können wir je wissen, wie es wirklich war? Das Geheimnis von Missbildung und Krankheit, von Leiblichkeit und Sexualität (einschließlich der offenen Frage nach Abstammung und Verwandtschaft innerhalb der königlichen Familie) wurde durch dieses Diktum versiegelt. Mit dem entschiedenen Blickwechsel auf die obere Körperhälfte des Königs, d.h. vor allem auf das Schrift gewordene Wort Echnatons, gelang Breasted das Kunststück, den überdrehten Freak der frühen Jahre der Ägyptologie in eine Lichtgestalt zu verwandeln. Vom Makel »der ungesunden Symptome« befreit, wechselte die Imago des Königs von der abstoßenden in die anziehende Sphäre des Außerordentlichen.
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