Alle Entscheidungen gehen von ihm aus, alle Fäden laufen bei ihm zusammen. Dem jungen König von »ausgeblühtem Geschlecht« wird eine weltgeschichtliche Rolle zugeschrieben (oder sollten wir sagen: aufgebürdet), die selbst stärkere Naturen überfordert hätte. Ausgestattet mit dem Genie eines Naturphilosophen und der poetischen Kraft eines Sängers hat er die Sendung der Religionsstiftung angenommen und quasi im Alleingang die altehrwürdige Kultur Ägyptens aus den Angeln gehoben. Ist das glaubhaft? Doch die Überbewertung hat Methode. Werke wie der Große Atonhymnus, die mit gleicher Berechtigung von anderen (wie dem »Gottesvater« Eje) stammen könnten, gelten wie selbstverständlich als Echnatons Schöpfung. In ähnlicher Weise werden ihm die weichenstellenden Taten der ersten Jahre (der Bau des ersten Atontempels in Karnak sowie die Feier des Sed-Festes) zugerechnet, obwohl belegt ist, dass er als unmündiges Kind auf den Thron kam und die Regierungsgeschäfte anfänglich in den Händen seiner Mutter, Königin Teje, lagen ( Abb. 4). Gewiss, in Fragen der Datierung und Zuschreibung folgt die Ägyptologie nur den inschriftlichen Vorgaben der Zeit; aber der nachlässige Positivismus, mit dem die extrem herrscherzentrierten Angaben übernommen werden, hat schwerwiegende Folgen. Wer zulässt, dass die dem Pharao geltende Propaganda Zeugniskraft erhält, der verstellt den Blick auf andere Schlüsselfiguren und Einflussgrößen.
Nun handelt es sich bei Teje und Eje um keine ganz beliebigen Akteure auf der Bühne der späten 18. Dynastie. Die beiden sind Geschwister und stammen aus dem Hause des Juja, eines hohen Würdenträgers, der unter Thutmosis IV. (Echnatons Großvater) die Funktion eines »Vorstehers der Pferde« innehatte und damit die militärische Schlüsselstellung der Leitung der Streitwagentruppe. Juja und seine Frau Tuja, deren hohes Ansehen durch ein reich bestücktes Grab im Tal der Könige bezeugt ist, haben es vermocht, dass ihre Tochter Teje zur Großen Königlichen Gemahlin von Amenophis III. aufstieg und ihr Sohn Eje die bedeutende Position seines Vaters beerben konnte. Anen, ein weiterer Sohn, bekleidete in Theben das nicht minder wichtige Amt eines Hohepriesters des Re; er komplettiert damit den beispiellosen Einfluss des Hauses Juja auf die Politik der Thutmosiden. Doch die Positionierung von drei Kindern im Herzen der Macht ist nur ein Teil, das Mittelstück sozusagen, eines größeren, sich über vier Generationen erstreckenden Prozesses der Machtverschiebung am ägyptischen Königshof. Am Anfang dieser Reihe steht Mutemwia, eine Schwester des Juja, der es als erster Frau dieses mächtigen Clans gelungen ist, die Stellung einer Königin einzunehmen. Als Gattin Thut-mosis IV. wird sie zur Mutter Amenophis III. Und sie ist es, die nach dem Tod ihres Mannes als faktische Regentin dafür sorgt, dass der noch minderjährige Kronprinz mit ihrer Nichte Teje vermählt wird. Eine Generation später wird die verwitwete Teje das Spiel mit der (und um die) Macht wiederholen und ihren Sohn Amenophis IV. wiederum mit einer Nichte, einer Tochter des Eje, verheiraten. Als Nofretete die Position der Großen Königlichen Gemahlin an der Seite ihres Mannes, des nachmaligen Pharao Echnaton, einnimmt, ist sie die dritte Frau in Folge, die aus dem Hause Juja zur Königin gekrönt wird. Der direkte Zugriff auf den Pharaonenthron gelingt dann ausgerechnet dem alternden Eje selbst; als er nach Tutanchamun den Thron besteigt, schließt sich der Kreis. Der finale Triumph markiert zugleich das Ende des Hauses Juja.
Abb. 4: Amenophis IV. als Kindkönig zu Beginn seiner Regierung
Die Wiedergewinnung einer genuin politischen Ebene zur Erklärung der Ereignisse, die zum Untergang der Thutmosiden führten, gelingt erst, wenn die zentrale Rolle, die Echnaton im Rahmen der Rekonstruktionsgeschichte zugewachsen ist, aufgegeben wird. Dazu muss das enge (und analytisch gesprochen: überdeterminierte) Geschichtsfeld von Amarna räumlich wie zeitlich erweitert werden. Out of Amarna , das heißt vor allem Preisgabe der Fixierung auf theologische und religionspolitische Fragen. Ein solchermaßen beschränkter Diskurs interpretiert alle relevanten Geschichtsmomente im Lichte der »religiösen Revolution« des Echnaton. Unter den Stichworten »Neue Sonnentheologie« und »Kultische Privilegierung solarer Gottheiten« sinkt die Epoche der Vorgänger zur bloßen Vorgeschichte eines kommenden Großereignisses herab. Ich werde dagegen plausibel machen, dass die Geschehnisse von Amarna Teil einer größeren Geschichte sind, die nicht (allein) religionspolitisch, sondern in erster Linie machtpolitisch inspiriert war.
Eine zweite vernachlässigte Dimension ist in meiner Rekonstruktion der Debatte von Anfang an zur Sprache gekommen, in Form der verschiedenen Reaktionsweisen auf die irritierende Körperlichkeit Echnatons. Diese bestehen typischerweise in einer Art von Abwehrhaltung, der Weigerung, den Eindruck einer bedeutsamen Leiblichkeit als Moment der Erkenntnis zuzulassen. Erlaubt ist einzig eine medizinische Ferndiagnose, und so wird bis heute mit zweifelhaften Expertisen darüber gestritten, ob Echnaton vielleicht unter dem »Fröhlich’schen Syndrom« oder eher unter dem »Marfan-Syndrom« gelitten haben könnte. 7Dabei steht der deformierte Körper des Königs nicht allein; seine Darstellung ist Teil einer ostentativen Sinnlichkeit, die sämtliche Abbildungen der Schönen und Nackten von Amarna durchzieht. Die ebenso anziehend wie abstoßend wirkende Körperlichkeit kulminiert in der offen zur Schau gestellten Tyrannei der Intimität, wie sie vor allem in den Familienszenen vorherrscht; sie hat ihren Höhepunkt in der androgynen Kolossalfigur Echnatons, die den frühen Atontempel von Karnak zierte. Mit dem Wissen um mehrschichtige inzestuöse Verbindungen innerhalb der königlichen Familie schließt sich dieser aufdringliche Bildkomplex – von einem psychoanalytischen Blickwinkel aus betrachtet – nahezu zwangsläufig zur Vorstellung eines ganz anderen Syndroms zusammen. Sichtbar wird der Glutkern eines heilig-verfluchten Eros, der die gleichsam gefühlte (nicht erdachte) Kraft der Sonnenenergie des »lebenden Aton« aufscheinen lässt – und damit den Beziehungsaspekt hinter dem Inhaltsaspekt der Atonreligion zur Sprache bringt. Ich werde zeigen, dass die charismatische Prophetie des Echnaton nur vor dem Hintergrund eines sich über mehrere Generationen erstreckenden inzestuösen Familienzusammenhanges verstanden werden kann, der die dynastisch erlaubten Gleise einer Bruder/Schwester-Verbindung verlassen hat. Der (in den Worten der griechischen Tragödiendichtung) »sich fortzeugende Frevel« des Inzests bezeichnet den verborgenen seelischen Motor hinter den Umwälzungen und Zerwürfnissen der Amarnazeit. Die aufgenommene Spur einer verhängnisvollen Sexualpolitik verspricht ineins das Rätsel um die Herkunft der Prinzen Semenchkare und Tutanchaton zu lösen.
Die durchgehende Privilegierung des theologisch-religiösen Diskurses hat sowohl die machtpolitische als auch die sexualpolitische Dimension in den Schatten gestellt. Beide Ebenen spielen im Monotheismusparadigma praktisch keine Rolle. Ihre Wiedergewinnung bedeutet aber nicht, dass nun die religionspolitische Ebene der Aufmerksamkeit entzogen werden soll. Ihre grundsätzliche Bedeutung liegt offen zutage; sie ist unbestritten, bedarf aber im Lichte einer thematisch breiteren Debatte einer Neubewertung. Auch die Anfänge der Kultreform liegen out of Amarna – und (noch) nicht in den Händen Echnatons. 8In den frühen Regierungsjahren Amenophis’ IV. werden im thebanischen Karnak die ersten Aton-Tempel errichtet. Formell im Namen des jungen Königs erbaut, zeigen die Heiligtümer deutlich die Handschrift von Teje und Eje. Ihre auffälligsten Elemente, die Kolossalstatuen des Königs und die Pfeiler der Königin, sind der eindrückliche Ausweis der absoluten Gleichrangigkeit eines gottgleichen Königspaares. Das heißt, jene Position, die sich Teje im Verlauf einer langen Regierungszeit erobern musste, wird Nofretete von Beginn ihrer Regentschaft an auf den Leib geschrieben. Mit der Einführung einer monotheistischen Religion hat das nichts zu tun. Die frühe Atonreligion ist vielmehr Mittel zum Zweck: der Herrschaftssicherung und Legitimierung der weiblichen, aus dem Hause Juja stammenden Linie.
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