Maxi Hill
David - Die Grausamkeit des Unterlassens
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Inhaltsverzeichnis
Titel Maxi Hill David - Die Grausamkeit des Unterlassens Dieses ebook wurde erstellt bei
Verstoßen
Verflucht
Verwöhnt
Verzweifelt
Verkannt
Verdrossen
Vertröstet
Verpflichtet
Verabredet
Verwandt
Verschwiegen
Vernünftig
Verzwickt
Verdächtig
Verunsichert
Verurteilt
Maxi Hill
Bibliografischer Überblick über die jüngsten Maxi-Hill-Bücher
Impressum neobooks
Ein ganz normaler Tag im Leben von Ellen Herold, und doch beginnt Furchtbares seinen Lauf zu nehmen, von dem weder Ellen noch ihr Mann Oliver etwas ahnen können. Bald wird in diesem Haus nichts mehr so sein, wie es einmal war. In diesem Haus hatten sie sich zu leben durchgerungen, weil ihr Traum vom Eigenheim nie und nimmer erreichbar wurde.
Ellen blickt durch das Küchenfenster über das Grün der Stadt bis zum Turm, dessen Uhr mal wieder streikt. Doch ihr Kopf ist nicht da draußen und nicht hier drinnen bei dem Gemüse, das ihr Messer akribisch auf dem Holzbrett zerteilt. Ihr Sinn ist auch nicht bei Oliver, der jeden Augenblick kommen wird. Das Essen ist noch nicht fertig. Ein Blick zur Uhr sagt ihr, er wird gerade das Auto vor dem Haus einparken und wie stets diszipliniert die Treppe nehmen anstelle des Aufzugs. Was wäre jetzt anders, hätte sie heute den Aufzug genommen?
Ihre Gedanken sind bei dem Kind, das da auf der Schwelle der Familie Brock saß, das sie nicht kannte und dem sie zurief:
»Na, mein Kleiner? Wohin gehörst du denn?«
Das Kind mit den scheuen Augen im zarten Gesicht reagierte kaum. Zwar schnellte ein Kinderbein trotzig in ihre Richtung, dann saß es wieder da, apathisch, nur sein bleicher Mund zuckte noch und sein Blick ging nach oben, als wartete es darauf, dass die Tür sich wieder öffnete.
»Bist du hier zu Besuch?« Die Lider des Kindes verdunkelten die hellgrünen Augen, Worte kamen nicht durch die verbissenen Lippen.
Der blonde Junge mochte noch keine drei Jahre alt sein. Seine Wangen waren rau, als habe sie kalter Herbstwind geschunden, und sein helles Haar lag in Strähnen verklebt auf der Stirn. Aber es ist Sommer und das Wetter kann freundlicher gar nicht sein.
»Willst du da rein? «, hatte sie es noch einmal versucht. Worte kamen noch immer nicht von dem Kind zurück, nur der Blick nahm eine gewisse Helligkeit an, die sie als Zustimmung gedeutet hatte.
Wäre sie doch bloß mit dem Aufzug gefahren!
Sie griff unter die Achseln des Kindes und hob es hoch. Kaum, dass sie den zarten Körper zwischen ihren Händen spürte, sprang ein seltsamer Funke über. Dieser Funke hat etwas entzündet und das brennt jetzt auf ihrem Gewissen. Das Kind konnte freilich auch unterernährt sein, vernachlässigt, verstoßen. Ausgestoßen, wie eben jetzt vor dieser Tür!
Es war ein Reflex, nichts anderes. Kein Gedanke an Einmischung. Kein Vorwurf. Keine Neugierde. Nur ein Reflex ließ sie zur Klingel greifen.
Es dauerte eine Weile, bis die Tür sich einen Spalt breit öffnete.
Die Hälfte vom Gesicht der Frau Brock erschien zwischen Holz und Wand.
»Entschuldigung«, hatte sie vorsichtig begonnen. »Ist der Junge vielleicht bei Ihnen zu Besuch? «
Ein Arm schnellte durch den Spalt, eine Hand griff nach dem Kind und zerrte es am Kragen in den Flur, ein Mund entließ wütend ein einziges Wort: »David!« Und dann hörte Ellen nur noch dumpf einen Halbsatz hinter der eiligst zugeschlagenen Tür: »Hundsfott, du! Willst du endlich…«
Was das Kind endlich sollte, blieb Ellen verborgen. Sie war festen Willens, sich über nichts zu wundern, doch das kindliche Wimmern hinter der Tür drückt auf ihrem Gewissen. Was ist zu tun? Warum hat sie geläutet? Zu wem gehört dieses Kind? Sie kennt schließlich die Kinder der Familie Brock. Und sie kennt sogar die Vorlieben der großen Jungen für Action- und Science-Fiction-Filme; sie muss schließlich nicht selten den Lärm aus dem Fernseher ertragen.
Aber ein Kind namens David? Nein. Das hat sie weder gesehen noch hat sie je eines der Geschwister diesen Namen rufen hören.
Man ruft sich doch unter Geschwistern. Woher sonst würde sie all die anderen Namen kennen. Zugegeben, alle kennt sie nicht, aber deren Gesichter kennt sie. Sie kann sogar die großen Jungen unterscheiden, von denen man sagt, sie seien Zwillinge. Der eine – Sven – trägt sein Haar über den Ohren und im Nacken geschoren und das Kopfhaar zu einer steilen Tolle gekämmt. Niklas, der sanftere von den beiden, trägt das Haar sauber geschnitten und gescheitelt, weshalb es auch dunkler erscheint als das von Sven. Und sie kennt Falk und Susi, die von der Mutter oft zum Einkaufen geschickt werden, wenn etwas Wichtiges fehlt. Aber dieses zarte, blond umrandete Gesicht mit den hellgrünen Augen und den bleichen Lippen hat sie noch nie gesehen. Darauf kann sie schwören.
Am späten Abend schlagen Türen in der Wohnung unter der von Ellen und Oliver Herold. Olivers Blicke huschen zu Ellen, die am Rechner sitzt und sich seit Minuten über etwas empört.
»Soziales Netzwerk? So ein Blödsinn. Hier wird nur Langeweile geschoben. Schau dir das mal an! Jetzt postet man schon sein Essen, bevor man es verschlingt. Und diese geistreichen Kommentare. Ellen flötet in höchsten Tönen: Ist ja süüüüß! Na, dann ‚ Guten Appetit ’ , liebe Ira. «
Als sich ihre Stimme wieder in der normalen Oktave bewegt, schüttelt sie ihren Kopf: Ist das für einen normal bemittelten Menschen soziale Kommunikation? Ist miteinander zu reden aus der Mode gekommen?
»Ist zu reden die einzig menschliche Art des Verstehens? «, erwidert Oliver, während Ellens Gedanken die direkte Richtung bis vor die Tür der Familie Brock nehmen: Worte sind wie Gewehre. Einige retten dich vor dem inneren Tod. Andere töten dein Ego.
Oliver schenkt dieser offenkundigen Absurdität im sozialen Netzwerk nur selten Beachtung. Manchmal kommt auch er nicht umhin.
»Vielleicht wohnen die meisten der Facebook-User auch in einem Haus mit so wortkargen Untermietern. « Sein Daumen zeigt zur Tür, mehr an Gesten ist nicht vonnöten. Sie weiß, dass er Untermieter falsch anwendet, aber sie weiß auch, wie er es meint und auf wen seine Spitze abzielt.
»Wortkarg schon, aber sonst ziemlich laut!«, erwidert sie aus lauter Höflichkeit, dennoch mit eindeutiger Geste nach unten, woher die Laute zumeist kommen.
Das Schlagen der Türen unter ihnen ist eine Sprache für sich, und jetzt fällt Ellen das Kind wieder ein. Noch ehe sie den Nerv aufbringt, mit Oliver darüber zu reden, murmelt er vor sich hin: »Gregor Brock kommt vielleicht gerade wieder aus der »Glucke« Ich hab ihn dahin gehen sehen. Wird wohl wieder hackevoll sein. «
»Am Monatsanfang, sagt Frau Hedel, geht die Mutter auch mit, und manchmal nehmen sie sogar die Kinder mit in diesen Kneipendunst. «
Oliver schüttelt seinen Kopf, unmerklich, aber ihr entgehen seine minimalen Gesten nicht: »Wie mein Freund Kalle schon sagt: Auf den Geldtag folgt zuverlässig die Schnapsidee. «
»Wenn das Geld dafür reicht!« Oliver weiß, dass sie sich um die Aufwendungen der staatlichen Sozialfürsorge keine Gedanken macht. In dieser Hinsicht ist sie einigermaßen begriffsstutzig. Ihr Mann dreht seinen Körper zur Hälfte in ihre Richtung. Das tut er nur, wenn er ganz bei der Sache ist. Und das wiederum wundert Ellen jetzt.
»Bei den vielen Kindern leben die alleine vom Kindergeld schon nicht schlecht. Hinkebein kriegt überdies noch Hartz IV, und Brummbär geht schließlich arbeiten. «
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