André David Winter
Die Leben des Gaston Chevalier
Roman
»Lange lernen wir an fremden Leben, irgendwann am eigenen.«
René David
Pour ma femme et mes enfants .
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Nachweise
Dank
Über den Autor
Impressum
Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Nachmittags flirrte die Luft in der Hitze. Über der Kirchturmspitze von Goussainville türmten sich schwere Gewitterwolken. Nur wenige Menschen bewegten sich, langsam. Die meisten standen unter der Platane auf der Place Hyacinthe, einige im Schatten der Markise des Café du Paradis. Der Einzige, der nicht zum Schlangenmensch hinüberlinste, war der Kolonialwarenhändler. Ungewöhnlich eilig trug er seine Waren nach drinnen, sein Sohn kurbelte das Sonnendach hoch. Ein paar Kinder saßen auf dem Randstein in der prallen Sonne, andere lehnten an Laternenpfählen. Sie fächelten sich mit Blättern Kühlung zu, die Männer mit Hüten, die Frauen mit Tüchlein. Zwei Fräuleins beschatteten ihre Gesichter mit Sonnenschirmen aus Seide. Die Glocke von Saint-Pierre-et-Saint-Paul schlug fünf, als erste Tropfen fielen.
»Enfin …«, hörte man den Wirt des Cafés sagen. Er nahm seine Brille ab und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß vom Gesicht.
Yves Chevalier, der Kopffüßer – »artiste et céphalopode« stand auf dem Plakat –, hüpfte auf einer Hand, einen Ball auf seinen Füßen drehend, als der erste Donner durchs Val-d’Oise rollte. Gleich darauf ließ ein fürchterlicher Knall den Boden erzittern, als wäre eine der schweren Wolken heruntergefallen. Die Gläser auf den Tischen des Cafés klirrten. Ein Blitz zerriss den Himmel, schwere Tropfen prasselten auf die Blätter der Platane, auf die Markise des Cafés. Der Schlangenmensch sprang auf seine Beine und floh mit den anderen unter den Schutz. Ein Windstoß fuhr darunter und zerriss das Sonnendach, in Sekunden waren alle nass.
Yves Chevalier wand sich an feuchten Körpern vorbei ins Innere des Cafés. Jemand streckte ihm ein Glas Gros rouge, dem billigen Rotwein, hin. Merde, fluchte er und leerte das Glas in einem Zug. Wochenlang hatte dieser verwünschte Regen gewartet. Warum musste er gerade jetzt, bevor er das Geld eingesammelt hatte, losbrechen. Bald würden drei Mäuler zu stopfen sein. Albertine würde heulen, wenn er mit leeren Taschen nach Hause käme. Er drängte wieder nach draußen.
Noch einmal fuhr der Wind in die zerfetzte Markise. Gläser fielen auf den Gehsteig und zerbrachen. Ein Seidenschirm flog durch die Luft. Chevalier und der Wirt sahen die beiden zitternden Fräuleins unter der Platane stehen. Der Wirt rannte los, seine Brillengläser beschlugen augenblicklich. Bevor er den Baum erreichte, überholte Yves Chevalier ihn. Obwohl Yves klein war, packte er die beiden Frauen mit erstaunlicher Kraft und zog sie in den Schutz des Cafés. Nur kurze Zeit später schlug der Blitz in die Platane ein. Die Tropfen wurden zu Hagelkörnern, groß wie Taubeneier.
»Bravo«, riefen alle, die es gesehen hatten. Yves Chevalier zog seinen Zylinder, verneigte sich und hielt ihn dem Nächstbesten hin. Die Sous und Centimes klimperten nur so in den zerbeulten Hut. Die Fräuleins legten zwei Scheine hinein.
So plötzlich, wie er gekommen war, hörte der Hagel auf. Bald regnete es auch nicht mehr. Eigentlich wäre es für Yves Zeit, sich auf den Weg zu machen. Bis ins Quartier du Petit-Montrouge waren es ein paar Stunden zu Fuß. Vielleicht lag Albertine schon in den Wehen.
Die Ältere der beiden Fräuleins verabschiedete sich. Auf dem Schoß der Jüngeren vergaß Yves Chevalier die Zeit, seine Frau, ihre besonderen Umstände, alles. Zudem tat der Gros rouge seine Wirkung, schon bald schmiegte das Mädchen sich an ihn wie ein Kätzchen. Verliebt schaute sie ihm in die Augen:
»Ist alles an dir so winzig?«
»Lass uns nachschauen.«
Als Yves Chevalier endlich im Petit-Montrouge anlangte, lag seine Frau schon in den Wehen und schrie ihn an:
»Hol endlich die verfluchte Hebamme.«
Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn, ihr Gesicht war schneeweiß. Er schaute sie verdutzt an, seine sonst so flinken Hände hingen hilflos herab.
»Geh, so geh doch endlich«, schrie sie ihn nochmals an.
Yves rannte los. Doch die Hebamme war außer Haus, bei einer Gebärenden in der Rue Didot. Als er dort ankam, war sie bereits wieder weg.
»Wissen Sie, wo sie ist«, fragte er den frisch gebackenen Vater.
Der zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Sie sagte nur, nach dieser Plackerei brauche sie einen Schluck.«
Daraufhin suchte Chevalier sie in jeder Kneipe im vierzehnten Arrondissement. Sie war nirgends zu finden. Aber alle, die er auf die Hebamme ansprach, spendierten ihm ein Glas.
»Auf die Vaterschaft, copain!«
Bis er die Vaterschaft vergaß.
Eine Nachbarin, die die Schreie der Gebärenden hörte, rief eine Ambulance, die sie in letzter Minute ins nahe gelegene Hôpital brachte.
Im Geburtsregister des Pariser Stadtteils Montparnasse und dem Klinikprotokoll des Hôpital Cochin war zu lesen:
Gaston Chevalier, Sohn der Albertine Chevalier, geboren am 16. Juni 1929, fünf Uhr morgens, Hôpital Cochin, Rue du Faubourg Saint-Jacques 27, in Abwesenheit des Vaters Yves Chevalier .
Letzteres zumindest stimmte. Gastons Vater war meist abwesend. Sein unstetes Akrobaten- und Wanderleben führte ihn durch ganz Frankreich. Immerhin schickte er von Zeit zu Zeit etwas Geld, doch zum Leben reichte es nicht. Gastons Mutter tat, was sie schon vor seiner Geburt getan hatte, sie arbeitete als Modistin in der kleinen Herrenhutmanufaktur »Les beaux chapeaux pour les beaux« und brachte den Jungen einer Nachbarin, die sich mehr schlecht als recht um ihn kümmerte.
Wenn sie ihn abends abholte, tingelten sie manchmal alle zusammen durch die Bistros und Cafés von Montparnasse. Sie tanzte mit Gaston im Arm zu den Klängen eines Accordéoniste zwischen anderen Nachtschwärmern oder setzte ihn einer Fremden auf den Schoß, die betrunken mitschunkelte.
Immer fand sich einer, der sie zu einem Glas Gros rouge einlud. Die Einladungen zum Tête-à-Tête, die dem Gros rouge oft folgten, schlug sie zu Beginn alle aus, irgendwann nahm sie sie doch an, sie zwangen sie jedoch, Gaston zu Hause zu lassen. Zum Trost durfte er in ihrem großen Bett liegen. Ins Fläschchen, das sie ihm gab, hatte sie ein paar Tropfen Wein getan. Alle im Quartier taten das. Wein gab warm, Wein gab Kraft! Und der Junge schlief durch.
Meist kroch sie erst im Morgengrauen zu ihm ins Bett. Manchmal musste sie aber auch zuerst in irgendeiner Absteige ihren Rausch ausschlafen.
Gaston wurde älter, und es wurde schwieriger, ihn allein zu lassen. Sie überließ ihn den Kindern auf der Straße und steckte ihnen ein paar Karamellen zu. Wenn die fertig gelutscht waren, vergaßen die Kinder den Bub. Irgendeine Mutter fand den plärrenden Jungen und passte widerwillig auf ihn auf. Wenn Gastons Mutter zurückkam, fauchte die Frau sie an.
»Hier, nehmen Sie ihren Balg, ich plage mich schon genug mit meinen eigenen.«
Читать дальше