»Kommt uns besuchen, versprecht es«, riefen die Mädchen und liefen neben dem Wagen her.
»Nächsten Sommer, versprochen«, antwortete Yves und knallte mit der Peitsche. Die Pferde fielen in Trab.
Paulette rannte mit und drückte Gaston ein kleines Päckchen in die Hand.
»Pass darauf auf und bring es mir zurück«, rief sie ihm zu.
»Pass auf dich auf.«
Sie drückte noch einmal seine Hand.
»Komm zurück, mein Junge.«
Gaston sah Tränen über ihre Wangen rollen.
Als sie am Pfarrhaus vorbeifuhren, hielt die Pfarrköchin sie an und gab ihnen einen gut durchwachsenen Speck und einen Sack Kartoffeln mit.
»Mit liebem Gruß vom Pfarrer.«
»Bestellen sie ihm einen ebensolchen«, nickte Yves und lüpfte den Hut.
Sogar der Lehrer stand beim Schulhaus und schenkte Gaston das Lexikon, das er ihm einst ausgeliehen hatte.
Alle begleiteten sie Vater und Sohn bis zur Brücke. Dort blieben sie stehen und winkten ihnen lange nach. Bis ihr Wägelchen zu einem Punkt wurde, der mit einem Mal verschwunden war.
Schon im nächsten Ort musste Gaston seinen Anzug aus- und irgendwelche Lumpen anziehen. Statt seines Hütchens trug er die abgewetzte Schiebermütze seines Vaters, Yves setzte sein altes Béret auf.
»Der Anzug ist ein Geschenk von Mémère. Warum muss ich ihn ausziehen?«
»Darum.«
»Ich will aber nicht.«
Statt einer Antwort bekam er eine Ohrfeige.
Bald schon war ihm klar, weshalb er seine geliebten Kleider nicht mehr tragen durfte: Lumpen erregten Mitleid, die Leute gaben einen Sou oder zwei mehr.
Ebenso rasch musste er erkennen, dass der Mann, der ihn besucht hatte, ein anderer war als der, mit dem er die nächsten Jahre durchs Land ziehen sollte. Yves Chevalier war nicht nur ein Céphalopode, oft stand bei ihm alles Kopf, war er sein eigenes Gegenteil und selbst wie umgedreht. Von einem Moment auf den anderen wurde er aufbrausend und jähzornig. Es kam aus heiterem Himmel. Wie ein Gewitter. Und so schnell, wie es gekommen war, war es meist wieder vorbei. Zu Beginn sah Gaston es nicht kommen, aber er lernte schnell, dass am besten mit Papa auszukommen war, wenn er für seine Pernods sorgte. Oder ihm half, eine petite Fille für ein Stündchen oder eine Nacht zu finden. Am besten beides. Dann konnte man alles von ihm haben.
»Ist das Leben nicht schön, Gaston. Willst du noch eine Portion? Wirt, bringt noch eine Portion für meinen Jungen. Und zwei Gläser vom Cidre für mich und die Kleine.« Er knuffte der Kleinen in die Seite, die vor Vergnügen quietschte.
So zuckelten sie mit ihrem Klepper von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Durch ganz Frankreich und Belgien.
Schon bald kannte Gaston den Ablauf, er war überall gleich: früh aufstehen, Kaffee machen, mehrere Stunden Exercises, am Schluss eine halbe Stunde Boxen. Gaston hasste es.
»Du wirst noch einmal froh sein darum«, meinte Yves nur und nutzte Gastons mangelhafte Deckung.
»Aua …«
Danach essen, eine kurze Pause und endlich: Le grand Spectacle!
Nachdem sie ihr Plakat auf dem Dorfplatz aufgestellt hatten, legte Yves seinen Teppich aus und wartete im Kopfstand aufs Publikum. Winkte den Vorbeigehenden zu und fragte nach dem Weg. Schob sich ein Ei in den Mund und holte es aus einem Ohr heraus.
Gaston zog seine Schiebermütze in die Stirn und ging durchs Dorf. Mit hoher Stimme rief er die Leute herbei:
»Messieurs, Mesdames, kommen und staunen Sie. Yves Chevalier, der Mann ohne Knochen, verknotet sich vor ihren Augen. Das hat die Welt noch nicht gesehen. Kommen und staunen Sie, sehen Sie selbst …«
Eine Handvoll Leute kam immer und sah, wie Yves sich ver- und entknotete oder sich, als wäre es das Natürlichste der Welt, auf seinen Händen stehend mit den Füßen am Kinn kratzte. Auf einer Hand hin und her hüpfte und aus der anderen eine Blume zauberte. Sich dann wie ein Kreisel um sich selbst drehte, schneller und schneller, bis aus seinem Hosenbein ein Äffchen sprang und von dort auf Gastons Schulter. Dann sprang auch Yves wieder auf die Beine und verneigte sich vor dem »hoch verehrten« Publikum.
Gaston nahm die Mütze ab und ging damit durch die Reihen. Wenn eine dralle Mademoiselle darunter war, fragte er sie mit Tränen in den Augen – auch das hatte er schon gelernt:
»Kommst du uns besuchen?«
»Hast du denn keine Maman?«
»Nein, sie ist bei meiner Geburt gestorben. Willst du?«
»Ist der Schlangenmensch dein Papa?«
Sie blickte zu ihm hinüber, er schickte ihr einen sehnsüchtigen Blick.
»Ja, und oft ist er so traurig, dass wir zusammen weinen. Am schlimmsten ist es, wenn wir nichts zu essen haben.«
»Wo wohnt ihr denn?«
»Unser Wagen steht bei der alten Mühle. Komm uns doch besuchen.«
Sie kamen meist, immer hatten sie etwas zu essen dabei. Sie aßen zusammen, Gaston weinte, Yves nahm ihn in den Arm.
»Nicht doch, mein Junge, jetzt haben wir ja was zu essen und sogar eine Maman für ein paar Stunden.«
Wenn Gaston in seinen Armen »eingeschlafen« war, legte er ihn auf seinen Strohsack. Danach brauchte es nicht mehr viel, Yves spielte die Rolle des traurigen Witwers brillant weiter und bekam meist, was er wollte. Gaston schlich aus dem Wagen und wartete draußen. Er zog Paulettes Abschiedsgeschenk aus der Hosentasche und öffnete es zum hundertsten Mal. Die falschen Perlen im weißen Haarband schimmerten im Schein des Mondlichts.
Manchmal blieben die Mädchen auch länger, und sie spielten für ein paar Wochen Familie, bis Yves der Kleinen überdrüssig war.
»Pack deine Sachen und geh.«
»Ich verstehe nicht.«
»Geh, hab ich gesagt.«
»Aber wie soll ich denn nach Hause kommen, ich …«
»Va-t’en!«
Schluchzend packte sie ihre Habseligkeiten zusammen und verließ den Wagen. Gaston schenkte seinem Vater ein Glas Pernod ein.
Ein paar Monate nach ihrem Aufbruch aus Castillon kamen sie in einen Ort, in dem Gaston auf seiner Runde ein Plakat des Grand Cirque Milano entdeckte. Noch mehr erstaunte ihn, dass das heutige Datum darauf klebte. Der Cirque war also zurück aus Amerika. Jetzt konnten sie gemeinsam auf Tournee gehen, und Gaston würde sie alle kennenlernen.
»Hercule, der Kraftmensch« stand als Überschrift auf dem Plakat. Darunter ein Bild, das einen kahlköpfigen Riesen zeigte, der sich mit seinen Zähnen an einem Trapez festbiss. An seinen Beinen hing eine Frau in einem Fledermauskostüm und schwebte durchs Zelt. Gaston jubelte, er schaute sich das Plakat noch einmal an. Die Vorstellung begann um sieben, auf der Gemeindewiese. Er wollte sie unbedingt sehen, Papa würde es bestimmt erlauben. Außer sich vor Freude rannte er los, um ihm zu berichten. Plötzlich hielt er inne. War das denn möglich? Konnten sie schon zurück sein? Amerika war doch so groß, hatte Papa gesagt. Und zwischen hier und dort war ein Meer, das noch viel größer war. Mit Seeungeheuern darin, die ganze Schiffe verschlucken konnten. Hatte Papa ihn angelogen? Waren sie gar nie in Amerika gewesen?
Er lief weiter. Auf dem Dorfplatz sah er eine Menge um ihren Wagen stehen. Es sah nicht gut aus. Gaston drängte sich zwischen den Gaffern durch und sah, wie der Kraftmensch, den er eben auf dem Plakat gesehen hatte, versuchte, seinen Papa in Stücke zu reißen. Doch Yves konnte sich befreien und flüchtete in den Wagen. Der Riese polterte an die Tür, fluchte, schrie.
»Mach die Tür auf, du elender Zwerg, sonst schlage ich sie ein.«
Gedämpft hörte er seinen Vater von innen rufen.
»Ich denk nicht dran, du hirnloser Koloss.«
Der andere schlug mit seinen Pranken so heftig gegen die Tür, dass Gaston dachte, sie würde bersten. Doch sie hielt. Der Riese schrie weiter.
»Mach auf, du Hurenbock.«
Die Tür blieb zu. Gaston sah den Hünen schon die Tür mit seinen Zähnen aufbeißen. Doch er tat es nicht. Vielleicht war er wirklich hirnlos. Gaston hoffte es.
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