Endlich sah er einen Gendarmen, der sich einen Weg durch die Menge bahnte.
»Platz da, macht Platz.«
Zum Tobenden gewandt, fuhr er fort.
»Hör auf damit, sofort.«
Der Angesprochene wandte sich um.
»Das geht dich nichts an, das ist eine Sache unter Männern. Geh. Geht alle weiter«, schrie er den Gendarmen und die Gaffer an. Wieder riss er an der Tür. Der Gendarm zog seine Pistole.
»Zum letzten Mal, lass die Tür los.«
Doch der Mann hörte nicht auf, der Landjäger schoss in die Luft. Die Menge sprengte erschrocken auseinander.
»Fertig jetzt, ich meine es ernst. Ich will euch beide hier nie mehr sehen. Den Zwerg nicht und dich nicht, verstanden.«
Der Schuss hatte den Riesen endlich zur Räson gebracht. Er ließ die Tür los und stampfte davon. Im Weglaufen rief er noch:
»Lass dich nie mehr in der Nähe meiner Frau blicken, Yves Chevalier, sonst besorg ich’s dir.«
»So wie ich ihr«, hörte man aus dem Innern des Wagens. Die Menge grölte. Der Riese drehte sich wieder um, sein Kopf war hochrot. Der Gendarm hob noch einmal die Waffe.
»Allez, va-t’en.«
Als der Mann außer Sichtweite war, öffnete sich die Wagentür. Yves Chevalier sprang mit drei Saltos auf den Platz hinaus.
Applaus ertönte. Gaston stellte sich neben seinen Vater und verneigte sich mit ihm.
»Meine Damen und Herren, die Aufführung kann weitergehen. Entschuldigen Sie die kleine Störung, sie war leider größer als ich.«
Wieder Gelächter.
Der Gendarm steckte seine Waffe ein.
»Packt eure Sachen und macht, dass ihr fortkommt.«
Doch die Menge protestierte.
»Lassen Sie ihn, Monsieur Morel. So etwas sieht man nicht alle Tage.«
Die meisten hofften wohl, der Gehörnte würde noch einmal umkehren und das Spektakel von vorne beginnen.
Der Gendarm zwirbelte seinen Bart.
»Nun gut, aber nachher fort mit euch. Verstanden?«
Papa lächelte sein bezauberndstes Lächeln und verneigte sich abermals vor dem »hochverehrten Publikum«.
Gaston ging nach der Vorstellung durch die Reihen und hielt seine Mütze hin. Noch nie hatte er so viele Münzen eingesammelt.
Gaston fragte nie mehr nach dem Grand Cirque. Und war es denn so schlimm, dass sie alleine unterwegs waren? Nein, er liebte ihr Vagabundenleben zu zweit oder zu dritt, obwohl er von morgens bis abends mitanpacken musste. Er machte Feuer, kochte, wusch ab, putzte, fütterte das Äffchen, lief ins Nachbardorf, klebte dort schon die Plakate für den nächsten Tag, lief rufend durch die Gassen, sammelte das Geld ein, übte mit Yves kleine Nummern und nutzte seine Chancen beim Boxen. Er besaß nicht die Gelenkigkeit und Élasticité seines Vaters, aber schon bald fragte auch er die Leute, auf dem Kopf stehend, nach dem Weg. Oder sie standen beide im Kopfstand da und sprachen laut darüber, warum die Leute, die an ihnen vorbeigingen, dies auf so umständliche Weise taten.
»Sie laufen alle auf ihren Füßen, ob du’s glaubst oder nicht«, sagte Yves.
»Nein, das ist nicht wahr.«
»Schau selbst, da kommt wieder einer.«
Yves zeigte auf einen Passanten.
»Das kann nicht gesund sein. Stell dir vor, wie viel Arbeit ihr Herz leistet, um all das Blut in den Kopf zu pumpen. Bei uns macht das die Natur.«
»Hast du deshalb so einen roten Kopf?«, fragte Gaston.
»Nein, nein, wo denkst du hin. Das ist wegen deinen Couplets. Sag noch eines auf, bitte.«
»Du erzählst es nicht weiter?«
»Heiliges Ehrenwort.«
Und Gaston trug eines der Couplets vor, die ihm seine Schwestern beigebracht hatten:
Ein Hurenhaus geriet um Mitternacht in Brand .
Schnell sprang, zum Löschen oder Retten ,
Ein Dutzend Mönche von den Betten .
Wo waren die? Sie waren -- bei der Hand .
Ein Hurenhaus geriet in Brand .
Schon blieben die ersten Gaffer stehen, lachten, stießen sich in die Seite.
»Noch ein letztes Mal«, bat Yves.
»Aber jetzt hat es Leute, die uns zuhören.«
»Bitte …«, winselte sein Vater und ließ die Zunge aus dem Mund hängen.
Gaston wiederholte die Verse und sprang danach auf die Beine. Er verneigte sich, und Papa begann mit seiner Darbietung.
Wenn Gaston, der Bär, oder Gaston, der Affe, nach einem langen Tag endlich auf seinem Strohsack lag und an die Couplets dachte, die er tagsüber vorgetragen hatte, bekam er oft Heimweh nach seinem Hurenhaus. Er nahm den Matrosenanzug und Paulettes Haarband aus dem Versteck und strich mit der Hand über den feinen Stoff, die falschen Perlen. Dann roch er daran und meinte, einen kleinen Rest von Paulettes Parfum zu riechen. Er schloss die Augen, sah sie und seine anderen grandes Sœurs in ihren seidenen Miedern, sah sie sich pudern und die Haare vor den großen Spiegeln mit Brenneisen zu Locken drehen. Er sah die roten Gesichter der Champagner trinkenden und Zigarre rauchenden Männer auf den breiten roten Fauteuils. Er drückte den Matrosenanzug an seine Nase, auch den Zigarrenrauch glaubte er noch zu riechen. Sogar an die frisch gewaschenen Laken von Madame Taillard konnte er sich erinnern. Er sah, wie sie sich auf der Wäscheleine im Wind blähten. Er hörte, wie die Wirtschafterin die Stare, die sich gesammelt hatten, um in die Reben einzufallen, mit ihrem lauten Rufen und erstaunlich präzisen Steinwürfen vertrieb. Er spürte Mémère im Bad hinter sich stehen, ihren kontrollierenden Blick und den nassen Kamm, mit dem sie versuchte, seine widerspenstigen Haare zu glätten. Fühlte ihre warme Hand über seine Wange streichen und den Kuss ihrer trockenen Lippen auf seiner Stirn, wenn sie ihn zu Bett brachte.
Wie gerne wäre er in diesen Momenten in Castillon gewesen. Bei ihr und den anderen. Bei Paulette. Würde er sie je wiedersehen? Papa hatte es versprochen. »Im Sommer werden wir sie besuchen«, hatte er gesagt. Bald war Sommer.
Nachts weinte Gaston oft im Schlaf. Sein Kopf rollte hin und her, seine Zunge schnellte im Mund vor und zurück. Dann nahm Yves Gaston in den Arm und sang ihm Il était un petit homme vor.
»Alles ist gut, mein Kleiner«, flüsterte er.
Doch das stimmte nicht. Papa sah nicht, was Gaston in seinen Träumen sah, roch nicht, was Gaston roch. Schorfige Hände krochen von allen Seiten auf ihn zu, griffen nach ihm. Legten sich auf seine Brust, um seinen Hals, drückten zu. Plötzlich verschwanden die Hände, der Schorf blieb, breitete sich auf seinem Körper aus. Veränderte seine Farbe, seine Form, war plötzlich überall, bildete Flecken an den Wänden, auf Tapeten. Aus den Flecken liefen Kühe auf ihn zu, riesige normannische Kühe mit enormen Eutern und mahlenden Zähnen. Aus den Eutern spritzte Milch. Der Boden war voll davon. Überall war sie. Gute, weiße, warme Milch. Er bekam Durst, solchen Durst. Doch bevor er die Milch auflecken konnte, war sie im Boden versickert, aus dem plötzlich Dämpfe stiegen, die nach Pisse stanken. Gastons eigener. Er erwachte und schlich aus dem Wagen, um Bettzeug und Kleider auszuwaschen.
Der Sommer kam. Gaston hatte viel gelernt – vor allem, weniger Fragen zu stellen. Dafür setzte es weniger Ohrfeigen ab. Auf die Frage, warum sie Mémère und die Mädchen nicht besuchten, bekam er eine.
Der Sommer ging, Gaston fragte nie mehr.
Wenn sie länger an einem Ort blieben, schickte Yves ihn in die Schule. Dort holte Gaston den verpassten Stoff in kürzester Zeit nach. Verstand er etwas nicht, half oft das Lexikon des Lehrers.
Wenn sie weiterzogen, fragte Papa ihn auf dem Kutschbock über die Geschichte Frankreichs ab:
»Wer sagte, wer nicht zu täuschen weiß, weiß nicht zu herrschen?«
Gaston schrieb die Antwort auf einen Zettel – so übte er auch zu schreiben – und zeigte sie seinem Vater.
Louis-quatorze.
Der nickte nur.
»Wer war der erste Bourbonenkönig?«
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