Albertine packte den Jungen und brachte ihn ein paar Straßen weiter zu ihrer Tante und versprach, für ihre tägliche Ration Wein zu sorgen. Sie hatte lange gezögert, diesen Schritt zu tun, aber sie sah keinen anderen Ausweg. Sie brauchte Geld.
Zu Beginn hatte Gastons Großtante Freude an dem Jungen, er brachte ein wenig Ablenkung in ihr tristes Leben. Aber schon bald ließ auch sie ihn alleine in ihrer schmutzigen Wohnung. Das bisschen Wein, das ihre Nichte ihr brachte, reichte nicht. Wein brauchte man, um zu vergessen. Und es gab viel, was sie vergessen wollte. So vergaß sie auch Gaston. Stundenlang lag oder saß er da, brabbelte etwas vor sich hin. Bald aber starrte er nur noch an die Decke. Manchmal lag ein Stück Brot neben ihm, manchmal nicht.
Albertine wurde immer unzuverlässiger. Mal kam sie nur jeden dritten Tag mit den zwei Flaschen Gros rouge, dann verstrich sogar eine ganze Woche, bis sie wieder auftauchte. Gastons Großtante hatte genug von ihrer Nichte und deren Sohn, sie entschied, ihn zurückbringen. Als sie zum Haus kam, in dem Albertine wohnte, erklärte ihr die Concierge, Madame Chevalier wohne schon seit Tagen nicht mehr hier.
»Einfach abgehauen ist sie, ohne die Miete zu zahlen, das Miststück.«
Albertines Tante schaute die Concierge verdutzt an.
»Wissen Sie, wo ich sie finden kann?«
»Bien sûr, in Marseille, ist mit irgend so ’nem Großmaul dorthin abgehauen. Hat ihr wohl das Paradies auf Erden versprochen. Allen im Quartier hat sie es erzählt. Wussten Sie das denn nicht?«
»Verdammtes Luder«, lallte sie.
Gaston begann zu quengeln, als hätte er jedes Wort verstanden. Seltsam, dachte seine Großtante, er kann doch gar nicht sprechen. Einen Moment lang sann sie darüber nach, ihn ins Waisenhaus zu bringen, aber dafür steckte ihre Kindheit ihr noch zu sehr in den Knochen.
Der Junge blieb und verwahrloste zunehmend. Im Alter von drei Jahren konnte er weder sprechen noch gehen. Auch schien er nicht mehr zu wachsen. Sein Kopf rollte hin und her, seine Zunge schnellte im Mund vor und zurück. Dann wieder lag er wie erstarrt da und betrachtete stundenlang die Flecken auf der Tapete oder die Krusten auf seiner Haut. Er schlappte Wasser, Wein oder in Milch eingelegte Brotbrocken aus einer Schüssel am Boden. Manchmal blickte seine Großtante zu ihm hin und fragte sich, wie dieses seltsame Tier in ihre Wohnung gekommen war.
»Schttt, geh weg, scher dich fort«, zischte sie und scheuchte es fort.
Aber das Tier blieb, schrie sie sogar an. Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.
»So bleib halt, du dummes Vieh.«
Als Gastons Vater wieder einmal in Paris war und sich nach seinem Sohn erkundigte, fand er ihn nach langem Suchen in der Wohnung der Alten. Gaston lag unter einem schmutzigen Leintuch und lallte vor sich hin. Seine geschlossenen Augen waren verklebt. Yves zog die Decke weg, Gaston war nackt. Sein abgemagerter Körper war über und über mit Kot und Krusten bedeckt. Es stank bestialisch. Yves Chevalier wurde übel.
Mit Tränen in den Augen nahm er den Jungen hoch und barg ihn in seinem Mantel. Noch immer rollte der Kopf des Kleinen hin und her. Er hielt ihn fest und rannte mit ihm aus der Wohnung. Dabei stieß er einen Stuhl um, die Alte schrak aus ihrem benebelten Schlaf auf.
»Halt«, keifte sie, »das ist mein Tier, gib es mir, gib es zurück, du verfluchter Dreckskerl«.
Als Yves aus der Haustür trat, klatschte Wasser von oben auf ihn und seinen Sohn herunter. Die Alte schrie aus dem Fenster.
»Haltet ihn, er hat es mir gestohlen.«
Erschrocken blieben die Nachbarn stehen. Sie blickten nach oben und sahen die keifende Alte. In den Armen des Mannes erkannte eine Frau den Kleinen, den sie seit Monaten nicht mehr gesehen hatte.
»Das ist Gaston, ihr Großneffe«, rief sie und zeigte mit dem Finger auf den abgemagerten Jungen.
Ein paar Gaffer stellten sich dem Mann in den Weg, umringten ihn.
Verzweifelt sah Yves den Jungen an, als könne er ihm helfen. Seine Augen waren noch immer geschlossen. Plötzlich öffnete er sie und schaute seinen Vater an. Gaston, sein Sohn, er war noch da.
»Vergib mir, mein Kleiner, bitte vergib mir.«
Mit Tränen in den Augen hielt Yves ihn hoch:
»Schaut, was passiert, wenn ein Vater sein Kind im Stich lässt. Schaut ihn euch an, meinen Sohn.«
Angewidert blickten die Gaffer auf den verschorften Körper des Kleinen und traten zurück. Sie ließen den Mann vorbei und schüttelten die Köpfe. Sie hatten schon viel gesehen, aber an so etwas konnten sie sich nicht erinnern.
Yves wusste, den Kleinen konnte er nicht, noch nicht auf seine Tourneen mitnehmen. So brachte er ihn in die Normandie, nach Castillon zu seiner Mutter Yvonne, die dort eine Maison de passe betrieb. Sie war nicht sehr erfreut, als sie das Telegramm las:
»Komme Montag – bringe Sohn mit – geht ihm schlecht – weiß sonst nicht wohin – Yves«
Bis dahin hatte sie gar nicht gewusst, dass sie einen Enkel hatte.
Mein Haus ist ja nun wirklich nicht der richtige Ort für ein Kind, dachte sie. Als sie jedoch den elenden Zustand des Kleinen sah, klatschte sie entsetzt in die Hände und war bereit, Gaston aufzunehmen.
»Aber nur, bis wir etwas Passenderes für ihn gefunden haben.«
»Mais bien sûr, Maman«, stimmte Yves ihr zu.
»Du schickst mir Geld für ihn.«
»Immer, wenn ich welches habe.«
»Du kommst ihn regelmäßig besuchen.«
»Ich verspreche es.«
Die jungen Frauen, die im Etablissement arbeiteten, waren entzückt, als sie den Kleinen sahen. Hatte Gaston vorher keine Mutter, so hatte er nun acht – und es schien, als ob seine Entwicklung sich verachtfachte. Einige der Frauen hatten eigene Kinder, die ihnen pflichtbewusste Fürsorgerinnen weggenommen hatten. Sie ließen Gaston all die Liebe zukommen, die sie ihren eigenen nicht geben konnten. Gaston wurde gebadet, gepflegt, gefüttert, verwöhnt. Seine Sœurs, wie er sie nannte, zogen ihm nur die schönsten Kleider an, nahmen ihn auf den Schoß, hätschelten ihn. Er nahm zu, seine Haut erholte sich, langsam begann er auch wieder zu wachsen.
Es war, wie Yves gesagt hatte, Gaston war noch da. Wie durch ein Wunder hatte er seine Jahre als Tier überlebt. Und nun war immer jemand für ihn da, spielte, tanzte, sang mit ihm. Rasch lernte er laufen und sprechen, ja sogar lesen. Er hatte ein erstaunliches Gedächtnis. Mit vier las er bereits einfache Kinderreime und plapperte oder sang sie seinen Sœurs vor:
Un, deux, trois, nous avons un gros chat .
Quatre, cinq, six, il a de longues griffes .
Sept, huit, neuf, il a mangé un œuf .
Dix, onze, douze, il est blanc et rouge .
Großmutter Yvonne schloss ihn ebenfalls ins Herz, auch wenn sie dies nach außen hin selten zeigte. Sie brachte ihm Tischmanieren bei und sorgte dafür, dass er ein gepflegtes Französisch sprach.
»Auch an ihren Worten werdet ihr sie erkennen«, hob sie jeweils mahnend den Zeigefinger, wenn Gaston ein schlüpfriges Wort entfuhr, das er von den Mädchen gehört hatte. Sie war auch die Einzige, die streng mit ihm sein konnte, wenn es ihr zu wild wurde.
»So, Schluss jetzt, er ist nicht euer Spielzeug. Hier geht es ja zu wie im Bordell. Zeit für dein Schläfchen, Gaston.«
Die Mädchen kicherten.
»Nur noch ein bisschen, Mémère.«
»Was habe ich gesagt, Gaston?«
»Oui, Mémère.«
Mit gesenktem Köpfchen stieg er auf seinen Beinchen die Stufen zum Zimmer hoch.
Zu den Mädchen gewandt, meinte sie:
»Ihr verzärtelt ihn zu sehr, bald kommt er in die Schule. Dort wird es anders zu- und hergehen, das wisst ihr selbst.«
»Oui, Madame Yvonne«, sagten auch sie folgsam und zwinkerten Gaston zu, der sich auf der Treppe noch einmal umgedreht hatte.
Читать дальше