»Sie hängt an den Beinen ihres Mannes am Trapez, der sich nur mit den Zähnen festhält.«
Gaston hörte mit großen Augen zu, wenn sein Vater von Alceste, der menschlichen Kanonenkugel, Mireille, der Frau mit Bart, oder dem traurigen Clown Pierrot erzählte. Er sah den Mann sich mit den Zähnen am Trapez festhalten und Marlène, seine Fledermausfrau, durchs Zelt fliegen. Besonders beeindruckte ihn, dass eine menschliche Kanonenkugel ein Loch durch die Zeltwand schießen konnte.
»Nimmst du mich mit, Papa?«
»Später, Gaston, später. Zuerst wartet ein anderer Zirkus auf dich, mit vielen Clowns.«
»Wie heißt er?«
»Schule, mein Junge. Dort wirst du lernen, mit Buchstaben und Zahlen zu jonglieren. Erst dann kann ich dich mitnehmen.«
»Ich kann schon lesen.«
»Ist das wahr? Und schreiben?«
Gaston schüttelte den Kopf.
»Siehst du. Du wirst dort schreiben und auch noch anderes lernen, das du später brauchen kannst.«
»Was denn?«
»Nun, zum Beispiel, wo die Eisbären wohnen.«
Er nahm Gastons kleinen Bären, steckte ihn in die Manteltasche und zog ihn aus einem der Hosenbeine wieder heraus.
Gaston lachte.
»Außerdem gibt es dort noch andere Kinder. Du wirst viel Spaß haben, du wirst sehen.«
Mémère und seine Sœurs erzogen Gaston zu einem artigen Jungen. Zwei Jahre nach seiner Ankunft trat er in die Schule ein. Er bekam ein Heft und Stifte und lernte Buchstaben und Zahlen schreiben. Sie zu jonglieren lernte er nicht. Aber schon bald, schien ihm, jonglierten sie in seinem Kopf. Sie purzelten darin herum wie lustige Clowns. Es war ein drolliges Spiel. Er sah, wie sie zuerst kurze Wörter bildeten. Wörter, die er irgendwo gehört oder gelesen hatte. Manchmal verstand er sie, manchmal nicht. Später kamen komplizierte, lange Wörter dazu. Er schrieb sie in sein Heft.
ANAL.
WAFFELN.
DALADIER.
FEIGWARZE.
CUNNILINGUS.
GALGENMÄNNCHEN.
DAMPFLOKOMOTIVE.
Als der Lehrer die Wörter sah, bekam er einen roten Kopf.
»Wo hast du das her?«
»Aus meinem Kopf.«
Er gab ihm eine Ohrfeige.
»Lüg nicht! Das hast du von den Männern in eurem Sündenpfuhl. Dort hast du es gehört.«
»Was ist ein Sündenpfuhl?«
»Ein Bordell.«
»Was ist ein Bordell?«
Noch eine Ohrfeige. Mémère brauchte das Wort manchmal, er verstand es aber nicht. Auch nicht, weshalb er dafür eine Ohrfeige bekam.
Am nächsten Tag legte ihm der Lehrer ein dickes Buch hin.
»Nimm das und schlag darin jeden Tag fünfzig Wörter nach, das wird dir die anderen schon austreiben. Du schreibst nur noch diese Wörter auf, hast du gehört. Und jeden Tag wirst du mir zeigen, was du aufgeschrieben hast.«
Gaston bat Mémère, ihm ein neues Heft zu kaufen, und schrieb darin die Wörter des Lehrers auf. Seine eigenen Wörter schrieb er in sein Heft und versteckte es. Darauf musste er nun gut achtgeben.
Es war nicht so, wie Papa gesagt hatte. Schule war nicht lustig, Gaston musste oft weinen. Auf dem Pausenhof spielte niemand mit ihm. Viele Eltern hatten es ihren Kindern verboten. Wer es dennoch tat, wurde verspottet oder gehänselt. Ein paar Jungen aus seiner Klasse lauerten ihm auf dem Heimweg auf und riefen ihm »Hurenbalg« nach. Einmal schubsten sie ihn in den Bach, ein andermal warfen sie ihm Steine nach. Sie stahlen seine Stifte und zerbrachen sie. Gaston hatte keine Ahnung, weshalb.
Er wusste auch nicht, dass der Lehrer mit dem Pfarrer geredet hatte.
»So kann es nicht weitergehen, Euer Hochwürden. Wir müssen den Jungen retten und ihn da rausholen, sonst gerät er auf die schiefe Bahn. Er ist sehr intelligent, den Stoff der ersten Klasse hatte er in wenigen Wochen intus. Gehen Sie und holen Sie ihn aus diesem Teufelshaus. Als Vorsteher des Waisenhauses werden Sie doch noch einen Platz für ihn haben.«
Hochwürden faltete die Hände über dem Bauch.
»Die alte Chevalier wird ihn nicht einfach so rausrücken, das wissen Sie so gut wie ich.«
»Ihnen wird schon etwas einfallen. Stürmen Sie dieses Hurenhaus meinetwegen mit ihren himmlischen Heerscharen. Schließlich sind Sie nicht umsonst per Du mit ihnen.«
»Mit wem?«, fragte der Pfarrer ein wenig brüskiert.
»Sie wissen schon, wen ich meine«, sagte der Lehrer und blickte ihn streng an.
So kam es, dass der Pfarrer bei Madame Chevalier vorsprach. Er war selbst regelmäßiger Gast im Haus, um den Filles de joie von Zeit zu Zeit moralischen Beistand zu leisten, wie er es nannte.
Natürlich war es Madame Chevalier nicht entgangen, wie die Leute bei ihren gelegentlichen Einkäufen im Dorf hinter ihrem Rücken tuschelten. Auch sie machte sich Gedanken. Gaston wurde älter, neugieriger, verständiger. Schon jetzt stellte er Fragen, die nicht mehr leicht zu beantworten waren.
»Warum ist der Bürgermeister, der doch schon verheiratet ist, nun auch mit Odette verheiratet?«
»Von wem hast du das?«
»Sie selbst hat es mir gesagt.«
Ein andermal fragte er, warum Monsieur Roux, der Arzt, der doch kein Kind mehr war, an Madeleines Brust nuckelte.
Gütiger – sie hielt sich die Hände vors Gesicht. Wenn sie nur daran dachte, der Junge könnte etwas davon in der Schule erzählen, wurde ihr kalt und heiß zugleich. Nein, so konnte es nicht weitergehen. Sie wusste, dass auch Gaston litt. Sein Lachen erklang viel seltener, er weinte nachts im Schlaf. Trotzdem würde sie ihn auf keinen Fall ins Waisenhaus geben, wie es der Pfarrer vorgeschlagen hatte. Schließlich war er nicht Waise, er hatte einen Vater.
Als Yves das nächste Mal zu Besuch kam, erinnerte sie ihn an seine Pflichten und sein Versprechen, etwas Passenderes für den Jungen zu finden. Natürlich wusste sie, dass er dafür nicht das Geld hatte.
»Mais alors – was kümmert’s mich«, gab ihr Yves zur Antwort. »So wird Gaston eben ein Zirkuskind. Wie sein Vater.« Und wie ich, als ich jung war, erinnerte sich Yvonne. Alle Chevaliers waren Zirkusleute. Sie sieht sich auf den Schultern ihres Vaters stehend durch die Manege reiten. Hört den Applaus des Publikums. Waren es nicht schöne Jahre?
In der Remise stand noch ihr alter Zirkuswagen. Sie beschloss, Yves das Geld für die Reparatur und einen Gaul vorzustrecken. Er würde es ihr so wenig zurückzahlen wie die Ausgaben für Gaston, die sie fein säuberlich auf eine Seite in ihr großes Kassenbuch eingetragen hatte. Dafür hätte sie ein Maul weniger zu stopfen.
Sie riss das Blatt aus dem Kassabuch. Es war entschieden. Für Gaston würde ein neues Leben beginnen.
Gaston war außer sich vor Freude, als sein Vater ihm sagte, dass er ihn nun mitnehmen werde.
»Kannst du denn jetzt schon schreiben?«
»Ja, nur noch nicht so schön.«
»Es wird reichen, um aufzuschreiben, wie viel Geld wir verdienen.«
»Werde ich jetzt Alceste kennenlernen? Oder die Frau mit Bart?«
»Oh, nein – wir werden alleine auftreten, der Grand Cirque ist in Amerika auf Tournee.«
Gaston machte ein enttäuschtes Gesicht.
»Warum gehen wir nicht mit?«
»Weil Amerika viel zu groß ist für uns Winzlinge und weil wir zwei unseren eigenen Zirkus machen. Yves, der Schlangenmensch, und Gaston, der Bär.«
Das Gesicht des Jungen hellte sich wieder ein wenig auf.
Am Tag ihrer Abreise standen, trotz der frühen Stunde, alle im Hof, um die beiden zu verabschieden. Madame Taillard und die grandes Sœurs weinten, auch Madame Chevalier verdrückte eine Träne. Alle hatten ein Abschiedsgeschenk für sie, obwohl sie den Wagen schon mit Vorräten und Spezereien gefüllt hatten. Gaston saß in einem Matrosenanzug, ein Hütchen mit einem lustigen Pompon auf dem Kopf, neben seinem Vater und weinte ebenfalls. Aus Freude oder Schmerz. Er wusste es nicht. Als ahnte er das Glück und die Not der kommenden Jahre, in denen er, wie alle, irgendwann in der Rolle verschwand, die er für das wirkliche Leben hielt.
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