David George Haskell
DAS VERBORGENE
LEBEN DES WALDES
Ein Jahr Naturbeobachtung
Aus dem Englischen von
Christine Ammann
Verlag Antje Kunstmann
Für Sarah
ZWEI TIBETISCHE MÖNCHE beugen sich über einen Tisch, behutsam umfassen ihre Hände ein trichterförmiges Messingröhrchen. Aus dem Röhrchen rieselt farbiger Sand auf den Tisch. Die feinen Sandströme fügen dem Mandala neue Linien hinzu, lassen es langsam wachsen. Die Mönche gehen von der Mitte aus kreisförmig vor, folgen der Kreidezeichnung, die die Mandalagrundform bestimmt, und füllen diese dann aus der Erinnerung mit Hunderten von Details.
In der Mitte befindet sich eine Lotusblüte, ein Symbol Buddhas, umrahmt von einem reich verzierten Palast. Die vier Palasttore öffnen sich zu konzentrischen, farbenfrohen und symbolträchtigen Kreisen, die für die Stufen auf dem Weg zur Erleuchtung stehen. In einigen Tagen wird das Mandala vollendet sein, dann wird es zusammengefegt und das Häufchen Sand in ein fließendes Gewässer gestreut. Das Mandala ist vielschichtig: Es verweist auf die Konzentration, die zu seiner Erschaffung erforderlich ist, auf die Balance aus Komplexität und Kohärenz, auf seine Symbole und seine Flüchtigkeit. Doch all das ist nicht der eigentliche Sinn des Sandmandalas. Das Mandala steht für den Lauf des Lebens, den Kosmos und die Erleuchtung Buddhas. In dem kleinen Sandrund offenbart sich die ganze Welt.
Einige nordamerikanische Studenten drängen sich hinter einem Seil und recken die Hälse wie Reiher, um die Entstehung des Mandalas zu verfolgen. Sie verhalten sich ungewöhnlich ruhig. Vielleicht sind sie vom Mandala gefesselt, oder die Andersartigkeit der Mönche hat sie verstummen lassen. Mit dem Besuch des Mandalas beginnt für die Studenten das erste Laborseminar in Ökologie. Danach werden sie in einem nahen Wald ihr eigenes Mandala erschaffen: Sie werfen einen Reifen auf den Waldboden, untersuchen einen Nachmittag lang ihren kleinen Erdkreis und beobachten, wie die Waldgemeinschaft arbeitet. »Mandala«, aus dem Sanskrit, kann man als »Gemeinschaft« übersetzen: Mönche und Studenten vertiefen sich also in dasselbe: Sie betrachten ein Mandala und schärfen dadurch ihren Geist. Doch die Parallele reicht noch weiter als die zufällige sprachliche Übereinstimmung oder Symbolik. Ich glaube, dass eine Mandala-große Waldfläche uns alle ökologischen Geschichten des Waldes erzählen kann. Vielleicht zeigt sich die Wahrheit des Waldes sogar klarer und eindringlicher, wenn wir nur einen einzigen Fleck betrachten, als in Siebenmeilenstiefeln ganze Kontinente zu durchqueren, von denen wir eigentlich nichts sehen.
Die Suche nach dem Universellen im unendlich Kleinen zieht sich als Grundmotiv durch die meisten Kulturen. In diesem Buch soll das tibetische Mandala unsere Leitmetapher sein, doch auch in den westlichen Kulturen gibt es manchen Anknüpfungspunkt. Mit seinem Gedicht »Weissagungen der Unschuld« hat sich William Blake weit vorgewagt: Das Mandala ist bei ihm auf ein Sandkorn oder eine Blume zusammengeschrumpft: »Die Welt zu sehen im Korn aus Sand / das Firmament im Blumenbunde.« Blakes Vorstellung geht auf den westlichen Mystizismus zurück, der vor allem von kontemplativen Christen gepflegt wurde. Für Johannes vom Kreuz, den heiligen Franz von Assisi oder Juliana von Norwich waren ein Verlies, eine Höhle oder eine winzige Haselnuss die Lupe, durch die sie die letzten Dinge erschauten.
Mit dem vorliegenden Buch versucht ein Biologe, es mit tibetischem Mandala, Blakes Gedichten oder der Haselnuss einer Juliana von Norwich aufzunehmen. Können wir durch ein kleines, beschauliches Fenster aus Laub, Felsen und Wasser den ganzen Wald sehen? Ich habe versucht, eine Antwort oder vielmehr eine vorläufige Antwort auf diese Frage in einem Mandala in den Bergen von Tennessee, in urwüchsigem Wald, zu finden. Mein Wald-Mandala ist ein Kreis von etwa einem Meter Durchmesser, so groß wie das Mandala, das die Mönche erschaffen und zusammengefegt haben. Auf der Suche nach einem geeigneten Mandala bin ich aufs Blaue durch den Wald gestreift, bis ich schließlich einen geeigneten Stein fand, auf dem ich sitzen konnte. Der Fleck vor dem Stein wurde mein Mandala: ein mir bislang vollkommen unbekannter Ort, der unter seinem nüchternen Winterkleid verheißungsvoll verborgen lag.
Das Mandala liegt an einem bewaldeten Hang im Südosten von Tennessee. Hundert Meter bergan ragt ein großer Sandsteinfels empor; er markiert den westlichen Rand des Cumberland-Plateaus. Unter halb des Felsens fällt der Hang terrassenförmig – teils eben, teils steil – ab, bis er 300 Höhenmeter weiter unten die Talsohle erreicht. Das Mandala kauert zwischen Felsbrocken auf der obersten Terrasse. Der Hang ist vollständig bewaldet: mit reifen, laufabwerfenden Bäumen, Eiche, Ahorn, Linde, Hickory, Tulpenbaum und vielen anderen. Der Waldboden ist mit knöchelgefährdenden Gesteinsbrocken übersät, die von der erodierenden Felswand herabgerollt sind, und vielerorts besteht der Boden aus nichts als vorstehenden, zerklüfteten Steinen, von dichtem Laub bedeckt.
Das steile, unwegsame Gelände hat den Waldhang geschützt. Im fruchtbaren, ebenen Tal weiter unten sind steinige Hindernisse selten. Sie wurden von Hirten und Bauern entfernt, erst von amerikanischen Ureinwohnern, dann von europäischen Siedlern. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert haben einige Bauern versucht, den Hang zu bewirtschaften, eine ebenso mühselige wie unergiebige Angelegenheit. Ein zusätzliches Einkommen verschaffte ihnen die Schwarzbrennerei: Seinen Namen »Shakerag Hollow« – Tuchwedeltal – verdankt der Ort Städtern, die eifrig mit dem Tuch wedelten, um die Schwarzbrenner auf ein paar Münzen aufmerksam zu machen, die sie dann auf dem Tuch hinterlegten. Ein paar Stunden später stand an der Stelle dann ein Krug mit starkem Schnaps. Der Wald hat sich die kleinen landwirtschaftlich und als Brennereien genutzten Lichtungen inzwischen zurückgeholt, sieht man von Spuren der Vergangenheit wie Steinhaufen, alten Rohren, verrosteten Badezubern oder Narzissengruppen ab. Große Teile des verbliebenen Waldes wurden, vor allem an der Wende zum 20. Jahrhundert, zum Bauen und Heizen abgeholzt. Nur kleinere Waldstücke blieben unberührt; Unzugänglichkeit, Zufall oder die Laune eines Waldbesitzers schirmten sie von den Zeitläuften ab. Dort liegt das Mandala: in einem ungefähr zehn Morgen großen Urwaldgebiet – einem Gebiet mit urwüchsigem Wald –, eingebettet in Tausende von Morgen Wald, der zwar einst gerodet wurde, doch mittlerweile reif genug ist, um die ökologische und biologische Vielfalt zu gewährleisten, die die Bergwälder von Tennessee auszeichnen.
Urwälder sind das reinste Chaos. Rund um das Mandala, nur einen Steinwurf entfernt, entdecke ich ein Dutzend umgestürzte Bäume in verschiedenen Fäulnisstadien. Die verrottenden Stämme geben Zigtausenden Arten Nahrung – Tieren, Pilzen und Mikroben. Umgefallene Bäume hinterlassen Lücken im Blätterdach und sorgen so für das zweite Merkmal urwüchsiger Wälder: Sie bilden ein Mosaik aus allen Baumaltern; Gruppen junger Pflanzen wachsen dort unmittelbar neben dickstämmigen alten. Westlich vom Mandala steht ein Ferkelnuss-Hickory, dessen Stamm unten ein Meter dick ist; unmittelbar daneben drängeln sich dagegen junge Ahornbäumchen, in einer Lücke, die ein umgestürzter massiver Hickory hinterlassen hat. Und hinter dem Stein, auf dem ich sitze, ragt ein mittelalter Zuckerahorn in die Höhe, mit einem Stamm so dick wie mein Oberkörper. In dem Wald hier wachsen Bäume jeden Alters und zeugen damit von der historischen Kontinuität der Pflanzengemeinschaft.
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