Burkhard Ziebolz
Das geheime Leben des Ettore Majorana - Kriminalroman
Saga
Das geheime Leben des Ettore Majorana - Kriminalroman Copyright © 2000, 2019 Burkhard Ziebolz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726086782
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Mein Dank gilt wieder einmal Sabine, Christiane, Peter und Michael, für ihr hartnäckiges, fast trotziges Korrekturlesen und ihre ungebrochene Diskussionsbereitschaft. Prof. Christian Kleint danke ich für seine freundliche Kooperation und Sabine Zinke für die fleißige Übersetzung aus dem Italienischen.
Der Kommune Catania danke ich dafür, daß sie alle meine Anfragen konsequent ignoriert und damit meinen Gedanken mehr Freiheit gegeben hat.
Ettore Majorana
1906 |
Geboren in Catania, Sizilien |
Bis 1923 |
Besuch des humanistischen Gymnasiums in Catania |
1923 – 1928 |
Studium der Ingenieurswissenschaften an der Universität zu Rom |
1929 |
Promotion in theoretischer Physik, unter Leitung von Enrico Fermi, danach als freier Mitarbeiter am Institut für Physik, theoretische Forschungen verschiedener Natur |
1933 |
Studienreisen nach Deutschland und Dänemark |
1933-37 |
Zurück in Rom, wieder am Institut für Physik, arbeitet viel zu Hause. |
1938 |
Professur an der Universität Neapel |
März 1938 |
Verschwunden aus seinem Leben |
»Wo soll ich beginnen? Die Welt ist so groß. Ich werde also mit dem Land beginnen, das ich am besten kenne, mit meinem eigenen. Aber mein Land ist so groß. Ich fange doch lieber mit meiner Stadt an. Aber meine Stadt ist so groß.
Am besten beginne ich mit meiner Straße. Nein, mit meinem Haus.
Nein, mit meiner Familie. Ach was, ich beginne bei mir.«
Elie Wiesel
»Beginne am Anfang«, sagte der König ernst, »und fahre fort, bis du ans Ende kommst: dann höre auf«
Lewis Carroll
Der Weg scheint endlos und ist doch nur dreißig Meter lang, sein Ende deutlich zu erkennen. Sogar das Namensschild sieht Himmelreich, der langsam geht, als könne jede hastige Bewegung seine Umgebung verschwimmen lassen, wie eine Bewegung im Wasser die Ordnung der Oberfläche zerstört.
Alfred Winkler.
Die Tür ist aus dickem, dunklem Holz, mit Masern rot wie Blut, die Klingel ein angenehm dunkler Gong. Sie öffnet sich schnell, als hätte sie auf ihn gewartet. Das Gesicht hinter der Tür – alt geworden, mit tiefen Furchen, aber immer noch unverkennbar dieselbe Person, und immer noch brennt die alte Kraft aus dunklen Augen. Kein Erschrecken, keine Angst findet sich in der Stimme, die noch kräftig und laut ist; sie klingt eher, als hätte er ihn schon seit langer Zeit erwartet.
»Victor. Wir haben uns lange nicht gesehen.« Und, als Victor nicht antwortet, sondern ihn nur anschaut: »Ich wußte, daß du irgendwann kommen würdest.«
»Du mußtest damit rechnen«, antwortet Himmelreich.
Die Schultern des anderen sinken ein Stück vornüber. Die Gestalt, früher kraftvoll und sehnig und nun nur noch der ausgemergelte Schatten eines anderen Lebens, tritt beiseite und gibt den Weg frei ins Innere des Hauses.
»Es gibt viel zu erzählen, und wenig Zeit dafür.«
Die Mauser drückt an der rechten Brustseite. Es gibt zeitgemäßere Waffen, leichter, kleiner und effektiver, aber Himmelreich bevorzugt das alte Ding, weil es ihn an alte Tage erinnert.
Die Pistole ist ein Fossil, Relikt einer anderen Epoche und einer anderen Umgebung, aber ist er nicht selber auch eines?
Dann sitzen sie sich endlich gegenüber. Das Haus ist groß, und sein Bewohner – ist er allein hier? – scheint nur einen kleinen Teil zu nutzen. Das Zimmer ist vollgestopft mit Erinnerungsstücken aus allen Teilen der Welt, Fotoalben, Kisten mit Dias, gerahmten Bildern an den Wänden, ein Magazin der Erinnerung. Ein ganzes Leben auf fünf mal fünf Metern, aber dennoch, würde man das Material hier auswerten, man wüßte immer noch nicht, wer oder was sein Besitzer wirklich war, dessen ist sich Himmelreich sicher.
Himmelreich sitzt leicht vorgebeugt auf der Kante eines braunledernen Clubsessels, seine Jacke öffnet sich am Revers und gibt den Blick frei auf den antiquierten Bakelitgriff der Waffe. Er sieht die vielen Pillendosen und das Spritzbesteck auf dem kleinen Glastisch.
»Bist du krank?«
Der andere zuckt mit den Schultern.
»Ein wenig Zucker, ein wenig die Lunge, ein wenig von allem. Und selber?«
»Man muß zufrieden sein.«
Eine Pause entsteht. Wie sagt man jemandem, daß man gekommen ist, ihn zu töten? Denn sagen muß man etwas, bevor man es tut. Das Urteil muß verkündet werden, mit allen Begründungen, sonst wäre es keine Strafe.
Auch wenn der Verurteilte den Richterspruch schon kennt.
»Wohnst du alleine hier?«
»Ja.«
»Du nennst dich hier Winkler.«
Die Stimme ist schwer, die Worte kommen heraus wie zäher Sirup.
»Alfred Winkler. Ein Name ist so gut wie der andere.«
Wieder eine Pause, und dann:
»Du weißt, warum ich hier bin?«
»Ich kann es mir denken.«
»Es ist wegen Irmgard.«
Das Gesicht bleibt ausdruckslos. Ein Krächzen, kaum als Lachen zu erkennen, drängt zwischen den trockenen Lippen hervor.
»Ja. Dabei gäbe es bessere Gründe, mich zu erledigen.«
Himmelreich nickt zum Zeichen des Verständnisses.
»Ganz bestimmt, nur fällt das nicht in meine Verantwortung. Mich geht nur ein Fall an. Mein persönlicher Fall.«
»Du kommst, um sie zu rächen?«
»Ich komme, um dich zu bestrafen.«
Wieder das trockene Lachen.
»Ohne Verhandlung? Ohne mir die Möglichkeit zur Rechtfertigung zu geben? Du hast dich verändert, Victor. Du bist nicht mehr derselbe wie früher. Nicht mehr Victor, der Gerechte.«
»Leute wie du haben dafür gesorgt.«
Man merkt, wie es in Winkler arbeitet, seine Augen wandern ohne Unterlaß durch den Raum als suchten sie etwas, an dem sie sich festmachen können, einen Anker, einen Rettungsring.
»Und du bist den Dingen von damals auf den Grund gegangen.«
»Ich kenne die Einzelheiten.«
»Wirklich alle Einzelheiten? Weißt du genau, wie das mit Irmgard war? Und was aus Ettore geworden ist?«
Himmelreich lehnt sich zurück. Eigentlich hatte er die Zeit nicht eingeplant, aber vielleicht ist es richtig so, vielleicht muß wirklich noch einmal über alles geredet werden. Es wird ihm selber helfen, wenn er den Weg zurückgeht. Und es gibt ihm noch ein wenig Zeit.
Außerdem fehlen ihm tatsächlich noch ein paar Bausteine, um das Bild vollständig zu sehen.
»Also schön.«
Der andere atmet hörbar auf. Nur noch ein krankes Bündel welkes Fleisch, aber dennoch, er hängt am Leben wie alle anderen auch.
»Vielleicht siehst du nicht, welche Rolle ich wirklich gespielt habe vor vierzig Jahren. Wir schreiben jetzt 1975, und alles hat sich geändert. Damals taten wir nur, was wir tun mußten, zum Wohle unseres Volkes. Und meine Gründe ...«
»Sag, was du zu sagen hast.«
»Ich wollte vorschlagen, daß du beginnst. Bei dir fing alles an, meine Rolle begann erst später. Und ich kenne die Vorgeschichte der Affäre Majorana nicht.«
Die Affäre Majorana. So hieß die Geschichte damals in der Presse, und die Zeitungen waren voll davon. Ein junger genialer Atomphysiker, Zögling Fermis, verschwunden von einem Tag auf den anderen, nachdem er alle seine Forschungsergebnisse vernichtet hatte. Himmelreich schließt für einen Moment die Augen und sieht die Schlagzeilen wieder vor sich, dicke Balken auf den Titelseiten der europäischen Zeitungen. Die Erinnerung ist zwar immer da gewesen, aber die Zeit hat sie schwächer gemacht. Jetzt, in diesem Moment, strömt sie in ihn zurück wie ein mächtiger Strom, der ein lange trocken gelegenes Becken füllt. Winkler will Zeit gewinnen, das ist ihm klar, aber zu groß ist die Verlockung, endlich über alles reden zu können, mit jemandem, der wirklich weiß, worum es geht.
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